Alte Helden – eine Nische oder der bessere Ansatz?

Während man bei Kinder- und Jugendbüchern als Faustformel sagt, dass Ihr Protagonist so alt sein sollte wie die Obergrenze Ihrer Zielgruppe, sind Sie als Autor von „Erwachsenenliteratur“ wesentlich freier in Ihrer Entscheidung.

Die meisten Schriftsteller entscheiden sich ganz traditionell für junge, attraktive Protagonisten. Je nach Genre kann das auch durchaus sinnvoll sein: Chicklit mit einer 60jährigen Protagonistin wäre zwar mal etwas ganz anderes, dürfte aber den größten Teil der Zielgruppe nicht ansprechen.

Doch andere Genres, egal ob Krimi, Thriller, Fantasy, Horror oder Science-Fiction, bieten durchaus auch Platz für ältere Helden. Und damit meine ich nicht nur betuliche ältere Damen wie Miss Marple oder Jessica Fletcher aus der Krimiserie „Mord ist ihr Hobby“.

Alt bedeutet nicht zwangsläufig tatterig, langsam und nachlassende Leistungsfähigkeit. Was das Altern aus einem Menschen macht, hängt – abgesehen von eventuellen Krankheiten, die wir uns nicht durch unsere Ernährung oder unseren Lebensstil zugezogen haben – größtenteils von einem selbst ab – und zwar sowohl geistig als auch körperlich.

Graue Wölfe

In den USA wurde vor einigen Jahren ein Experiment durchgeführt, bei dem untrainierte Männer und Frauen von über 60 Jahren (die allerdings keine Krankheiten wie Krebs oder Herzprobleme hatten) unter professioneller Anleitung mit einem systematischen Krafttraining begannen. Innerhalb von 24 Monaten waren diese Rentner stärker, agiler und beweglicher als die meisten 20-30-jährigen.

Ein gutes Beispiel dafür, dass die Leistungsfähigkeit unseres Körpers im Alter nicht zwangsläufig rapide nachlässt, ist der mittlerweile über 70jährige Bodybuilder Sam „Sonny“ Bryant Jr. (Bilder). Schauen Sie sich einfach mal diesen durchtrainierten, gestählten Körper an. Ist das die Vorstellung, die Sie vor Ihrem geistigen Auge haben, wenn Sie an einen 70jährigen Mann denken?

Beispiele wie das von Sonny Bryant zeigen uns, dass man durchaus einen alten, aber toughen Helden für seinen Roman erschaffen kann, ohne dadurch gleich unrealistisch zu werden. Natürlich setzt eine derartige Fitness einen gewissen Lebensstil voraus, den der Autor glaubwürdig durch die Persönlichkeit oder den (ggf. früheren) Beruf seines Protagonisten begründen sollte.

Ein ehemaliger Elite-Soldat, Agent oder Personenschützer wird im Ruhestand nicht seinen ganzen Lebensstil ändern und aus der Form geraten, nachdem hartes körperliches Training jahrzehntelang zu seinen festen täglichen Gewohnheiten gehörte. Er wird zwar graue Haare, Falten und vielleicht das eine oder andere altersbedingte Handicap wie beginnende Arthrose bekommen, aber er ist immer noch ein harter Hund, der den meisten jüngeren Kontrahenten deutlich überlegen ist.

Das liegt weniger an seiner Fitness (ein Punkt, in dem er mit einem jüngeren Rivalen bestenfalls gleichziehen kann) als vielmehr an seiner langjährigen Erfahrung. Jüngere Menschen sind oft leidenschaftlicher und ambitionierter. Sie sind ehrgeizig und haben Ziele, die sie erreichen wollen und Ideale, denen sie folgen. Ältere Protagonisten hingegen sind oft abgeklärter und gelassener, manchmal sogar desillusioniert bis hin zum Zynismus. Die Ziele, die sie in ihrer Jugend so leidenschaftlich verfolgt hatten, haben sie mittlerweile entweder längst erreicht oder aber als nicht lohnend verworfen. Sie stehen nicht mehr im Hamsterrad oder kraxeln hektisch auf der Karriereleiter, sondern betrachten das Treiben der Jüngeren mit einem gewissen Abstand vom Rand aus – wobei sie sich immer noch die Option offen halten, selbst noch einmal aktiv ins Geschehen einzugreifen.

Ältere Protagonisten sind erfahrener und routinierter und oft pragmatischer. Wie heißt es so schön: Mit zunehmendem Alter werden wir immer mehr zu dem, was wir eigentlich sind. Während ein junger Protagonist sich vielleicht noch auf eine falsche Fährte locken lässt, wird ein älterer, erfahrener Protagonist den Braten nicht nur riechen, sondern sich vielleicht sogar einen Spaß daraus machen, den Feind in seine eigene Falle tappen zu lassen.

Auch ihre Erinnerungen sind oft Gold wert. Sie erinnern sich an Ereignisse, die vor der Zeit ihrer jüngeren Konkurrenten lagen, aber immer noch für die aktuellen Geschehnisse von Bedeutung sind. Zudem sind sie oft weniger abhängig von moderner Technik. Sie verlassen sich nicht auf ihr Smartphone und darauf, dass sie immer und überall eine Internet-Verbindung haben.

Ihr Ass im Ärmel: Ältere Protagonisten werden leicht unterschätzt – ein Vorteil für Ihre Romanhandlung, den Sie ausspielen können. Wenn Sie früh genug ganz dezent andeuten, dass Ihr Protagonist früher ein harter Hund war, wird es der Leser nicht als unglaubwürdig empfinden, wenn der grauhaarige ältere Mann beispielsweise mit der Effizienz einer immer noch gut geölten Maschine ein paar aggressive Straßenschläger außer Gefecht setzt oder in die Flucht schlägt.

Hier fällt mir spontan der damals 67jährige, weißbärtige Vietnam-Veteran Thomas Bruso ein. Dieser wurde durch einen Vorfall bekannt, bei dem er in einem Bus mit einem wesentlich jüngeren Afro-Amerikaner in Streit geriet und schließlich von diesem tätlich angegriffen wurde. Bruso konterte den Angriff mit ein paar schnellen Schlägen, bis der Angreifer aufgab und um Gnade flehte. Der Vorfall, der von einem anderen Fahrgast mit dem Handy gefilmt und bei YouTube hochgeladen wurde, machte Bruso rasch als „Epic Beard Man“ bekannt – und lieferte zugleich die Grundlage für die später von Danny Trejo gespielte Figur Frank Vega im Film „Bad Ass“.

Unabhängigkeit und Risikobereitschaft

Ein weiterer Vorteil von älteren Protagonisten ist ihre Unabhängigkeit. Während jüngere Protagonisten Tag für Tag ihrem Brotjob nachgehen müssen und daher nicht mal eben einer mysteriösen Spur quer durch Europa folgen können, genießen ältere Protagonisten bereits ihre Rente oder Pension. Wenn sie während ihres Berufslebens etwas auf die hohe Kante gelegt haben, sind sie wesentlich bessere Kandidaten dafür, sich auf ein mysteriöses Abenteuer einzulassen und kurzentschlossen am Flughafen ein Ticket ins Unbekannte zu buchen.

Während jüngere Leute ihren Job riskieren würden, wenn sie auch nur ein paar Tage unentschuldigt der Arbeit fern bleiben, kann ein Rentner/Pensionär sich kurzentschlossen in den Wagen setzen und losfahren, ohne sich bei einem Arbeitgeber abmelden zu müssen.

Das macht es auch für den Autor einfacher. Je nach Handlung lässt sich die Dramatik nur schwer damit vereinen, dass der Protagonist jeden Morgen erst mal für 8-10 Stunden zur Arbeit fahren muss. Nicht umsonst wählen so viele Schriftsteller und Drehbuchautoren als Protagonisten gerne erfolgreiche Schriftsteller (eine beliebte Form der Wunscherfüllung im eigenen Manuskript… ;-)), da diese keiner festen Arbeit nachgehen müssen. Doch während erfolgreiche und wohlhabende Vollzeit-Schriftsteller, die sich zwischen dem Schreiben von Bestsellern in spannende Abenteuer stürzen, nicht gerade realistisch sind, finden sich unter den älteren Semestern wesentlich glaubwürdigere Kandidaten.

Auch in Hinsicht auf ihre Ziele sind die „Alten“ anders als jüngere Menschen. Sie können es sich leisten, etwas für andere zu tun und ihnen zu helfen – und sie können eher alles auf eine Karte setzen und sogar Risiken eingehen, vor denen jüngere Menschen aus gutem Grund zurückscheuen würden.

Ein junger Mann mit Familie und kleinen Kindern wird sich allein schon aus Angst um seine Familie hüten, sich mit der Mafia anzulegen. Ein alter Mann, dessen Kinder weit weg wohnen und der selbst geschieden oder verwitwet ist, kann eher das Risiko eines persönlichen Kreuzzugs eingehen. Selbst wenn er es nicht überlebt oder sich womöglich am Ende wegen Selbstjustiz vor Gericht verantworten muss, riskiert er nur noch ein paar Jahre und nicht mehr den größten Teil seines Lebens, wie dies bei einem jüngeren Protagonisten der Fall wäre.

Schwimmen Sie gegen den Strom…

Ein weiterer Vorteil für Sie als AutorIn ist, dass Sie sich mit einem älteren Protagonisten von der Masse absetzen. Nicht nur ältere Leser freuen sich, wenn sie mal nicht den üblichen jungen Schönling vorgesetzt bekommen, sondern einen smarten Helden in ihrem Alter. Auch jüngere Leser sind gerne bereit, sich auf die Abenteuer eines älteren Protagonisten einzulassen, der nicht den üblichen Klischees entspricht. Denken Sie nur an den Überraschungserfolg von „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“.

Sie brauchen sich auch keine Gedanken zu machen, dass Sie durch die Entscheidung für einen älteren Protagonisten die Anzahl möglicher Fortsetzungen Ihres Romans begrenzen. Es gibt genug Romanserien, in denen die Protagonisten scheinbar niemals altern, sondern in jedem Band dasselbe, meist nur recht vage angegeben Alter zu haben scheinen.

Ganz abgesehen davon hängt die Anzahl der Geschichten, die Sie rund um ein und denselben Protagonisten erzählen können, in erster Linie von der Figur selbst und ihrer Rolle ab. Ein Durchschnittsmensch, egal ob jung oder alt, wird vermutlich im Laufe seines Lebens höchstens ein großes, romanwürdiges Abenteuer erleben. Solange dieses Abenteuer ihn nicht so verändert, dass er nun aktiv neue Abenteuer sucht, wird jede neue Fortsetzung unrealistischer.

Hat Ihr Protagonist hingegen ohnehin das Zeug zum Serienhelden, kann er ruhig etwas älter sein. Denken Sie nur an die 80er-Jahre-Serie „Der Equalizer: Der Schutzengel von New York“, die erst kürzlich als Vorlage für den Equalizer-Film mit Denzel Washington diente: Insgesamt gibt es 88 Abenteuer rund um den Ex-CIA-Agenten und seinen Kampf gegen das Verbrechen und für die Gerechtigkeit. Potential hängt eben nicht in erster Linie vom Alter ab… ;-)


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