Einsatz von Try-Fail-Cycles im Roman

Eines der nützlichsten Hilfsmittel beim Plotten eines Romans ist der sogenannte Try-Fail-Cycle – wörtlich übersetzt der Versuch-Niederlage-Kreislauf. Dabei handelt es sich um eine Technik, mit der Sie die Entschlossenheit und den Erfindungsreichtum Ihres Protagonisten auf die Probe stellen und Ihre Leser auf die Folter spannen können.

Ein Roman, in dem der Leser sein Ziel zu schnell und zu einfach erreicht, ist erstens langweilig und zweitens sehr schnell vorbei. Zu schnell, um der Bezeichnung ‚Roman‘ überhaupt gerecht zu werden. Für einen richtigen Roman genügt es nicht, dass Ihr Held ein Ziel hat und dieses am Ende erreicht. Nein, er muss sich strecken und wachsen, fallen und sich immer wieder aufrappeln, damit er sich am Ende den Sieg redlich verdient hat.

Und genau dafür brauchen Sie als Autor den Try-Fail-Cycle. Für jedes größere Ziel, das Ihr Protagonist im Laufe Ihrer Romanhandlung hat, müssen Sie als Autor ihm Steine in den Weg legen, seine Anstrengungen torpedieren und ihn mit unerwarteten Tiefschlägen aus einer Richtung, aus der er sie niemals erwartet hätte, niederstrecken. Auch wenn man als Autor seinen eigenen Protagonisten mag, muss man ihn quälen – zum Wohle einer spannenden Romanhandlung.

Der Try-Fail-Cycle besagt, dass Ihr Held sein Möglichstes tut, um sein Ziel zu erreichen, und trotzdem scheitert. Die Gründe dafür können ganz unterschiedlicher Natur sein. Manchmal sind es die Schwächen des Helden, die ihn scheitern lassen. Vielleicht ist er noch nicht stark oder erfahren genug, nicht entschlossen genug oder er denkt noch zu selbstsüchtig, um Erfolg zu haben. Vielleicht liegt es auch daran, dass er die wahren Hintergründe oder die geheimen Pläne seiner Widersacher noch nicht durchschaut hat und daher in die falsche Richtung / gegen die Wand läuft.

Aber natürlich gibt Ihr Protagonist nicht auf. Er rappelt sich auf, schüttelt den Staub ab und leckt seine Wunden – doch dann überlegt er sich einen neuen Plan und startet den nächsten Versuch.

Natürlich ist auch dieser nicht von Erfolg gekrönt, denn ein einziger Rückschlag würde ja noch nicht genügen, um seine Entschlossenheit und Willenskraft ausreichend auf die Probe zu stellen. Selbstverständlich ist sein neuer Plan gut durchdacht und solide vorbereitet – und ebenso selbstverständlich werden Sie als Autor einen Weg finden, ihm auch diesmal Steine in den Weg zu legen, ihm Stöcke zwischen die Beine zu werfen und ihn mit einem weiteren unerwarteten Tiefschlag erneut auf die Bretter zu schicken.

Diesmal ist die Niederlage härter und schmerzhafter als beim ersten Mal. Es kann durchaus sein, dass Ihr Protagonist verwundet wird, einen wichtigen Gegenstand oder Verbündeten verliert oder einen anderen schmerzlichen Verlust erleidet. Dieser kann auch psychischer Natur sein – z.B. wenn er erkennen muss, dass jemand, dem er vertraut hat, eigentlich auf der Seite seines Gegners steht und ihm im entscheidenden Moment in den Rücken gefallen ist.

Die Anzahl der Runden eines Try-Fail-Cycles sind abhängig von der Länge des gesamten Romans und von der Bedeutung des Konflikts für die Gesamthandlung. Die Untergrenze liegt bei drei Runden, wobei die dritte dann bereits die letzte und alles entscheidende Runde ist, in der der Held dann üblicherweise den Sieg davonträgt. Das entspricht zwei Niederlagen, denn eine Niederlage / ein Rückschlag allein ist wie bereits erwähnt nicht ausreichend, um die Entschlossenheit Ihres Protagonisten wirklich auf die Probe zu stellen.

Für den zentralen Konflikt eines umfangreichen Romans können Sie ruhig auch noch 1-2 zusätzliche Runden einlegen, die jeweils trotz eines gut durchdachten Plans mit einem Fehlschlag für den Protagonisten enden. Das wird allerdings auch für Sie als Autor immer schwieriger, denn sowohl der Plan/Ansatz Ihres Protagonisten als auch die Art der Niederlage und die daraus resultierenden negativen Auswirkungen sollten jedes Mal anders sein.

Kurzum: mit jeder weiteren Runde des Try-Fail-Cycles wird die Lage Ihres Protagonisten schwieriger und aussichtsloser: Freunde und Verbündete werden getötet, gefangen oder sonstwie ausgeschaltet oder wenden sich von ihm ab; er selbst wird verwundet, diskreditiert oder gar geächtet und er verliert nach und nach alle Hilfsmittel und Ressourcen, auf die er bisher zur Lösung des Problems vertraut hatte.

All diese Runden aus Versuch und Niederlage dienen dazu, die Schale des Helden aufzuknacken und zu offenbaren, was für ein Kern in ihm steckt. Damit er den Sieg wirklich verdient, darf er ihn weder mit Hilfe technischer Gimmicks noch durch die Unterstützung seiner Freunde und Verbündeten erringen. Keine geheimen Bond-Waffen und keine Kavallerie, die den belagerten Siedlern in letzter Sekunde zur Hilfe kommt. Kein Deus ex machina, sondern ein zu allem entschlossener Protagonist, der sich wie einst Baron Münchhausen sozusagen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht.

Die letzte Niederlage des Try-Fail-Cycles muss so hart sein, dass sie dem Protagonisten buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzieht und all seine Hoffnungen auf einen Sieg gnadenlos zerschmettert. Dies ist, um bei der klassischen Heldenreise nach Joseph Campbell zu bleiben, der ‚dunkelste Moment‘, in dem der Held im übertragenen Sinne stirbt und in seiner neuen Form wiedergeboren wird.

Die finale Runde des Try-Fail-Cycles ist zugleich das Ende des Konflikts. Bei einer Nebenhandlung kann das irgendwo mitten im Roman sein. Handelt es sich jedoch um den zentralen Konflikt, befinden wir uns hier üblicherweise in den letzten 10-20% des Buchs.

Jetzt muss der Protagonist zeigen, was wirklich in ihm steckt. Diesmal gibt es kein Netz und keine Sicherheitsleine mehr. Er muss den Sprung wagen und weiß, dass er siegen oder untergehen wird. Wenn er diesmal wieder verliert, wird es keine weitere Chance, keinen weiteren Versuch mehr geben.

Oft ist es so, dass der Protagonist nach der letzten Niederlage, also im ‚dunkelsten Moment‘, bereit die Hoffnung auf die Erfüllung seiner eigenen Wünsche aufgegeben hat. Er weiß, dass er verloren hat.

In diesem Moment entscheidet sich der Protagonist oft, zum Märtyrer zu werden. Wenn er schon selbst nicht mehr gewinnen kann, will er beispielsweise zumindest noch den Feind zur Strecke bringen um so andere Unschuldige vor ihm zu schützen. Was dabei oder danach aus ihm selbst wird, ist ihm egal. Er kennt keine Angst mehr, da die Konsequenzen für ihn selbst ihm mittlerweile egal sind.

In einem Krimi kann das der Moment sein, in dem der integre Polizist seine Marke ablegt und zur Selbstjustiz greift: Der Gangster, den er zur Strecke bringen wollte, hat sich ein wasserdichtes Alibi gekauft und mit Hilfe korrupter Polizisten und fingierter Beweise den Protagonisten diskreditiert, so dass er nun selbst (und natürlich zu Unrecht) als Mörder und als flüchtiger Verbrecher dasteht. Er weiß, dass er keine Chance mehr hat, den Gangster aufzuhalten und weitere Verbrechen zu verhindern – außer wenn er alle moralischen Bedenken und alle Werte, für die er jahrelang gekämpft hat, über Bord wirft und sich selbst zum Richter und Henker ernennt.

Jetzt haben wir den ultimativen Einsatz für die letzte Runde des Try-Fail-Cycles: Der Polizist steht allein gegen den Gangster, seine schwerbewaffneten Handlanger und einige korrupte Polizisten, die sich zu einem konspirativen Treffen in der Villa des Gangsters treffen. Er weiß, dass seine Chancen verschwindend gering sind und dass er vermutlich sterben wird, bevor er den Gangster auch nur zu sehen bekommt. Doch selbst wenn er Erfolg haben sollte, werden die Überwachungsaufnahmen aus der Villa allen beweisen, dass er der Mörder ist – und damit seinen guten Ruf und seine Ehre endgültig zerstören.

Wie man eine solche Handlung enden lässt, ist Geschmackssache. Der Held kann sterben, aber der Gangster wird nachher für seine Ermordung verurteilt. Der Held kann den Gangster und seine Verbündeten eliminieren und danach in den Untergrund gehen, um von dort aus wie der Punisher aus den Marvel-Comics den Kampf gegen das Verbrechen fortzuführen. Oder der Held kann den Gangster so weit bringen, dass dieser vor laufender Kamera alles gesteht und der Held damit nachträglich doch entlastet und sein guter Ruf wieder hergestellt wird.

Oft ist es so, dass gerade die Bereitschaft, die bisher verfolgten eigenen Ziele aufzugeben, alle egoistischen Motive über Bord zu werfen und einfach das zu tun, was richtig ist, für einen unerwarteten Sieg des Protagonisten in letzter Minute sorgt.

Probieren Sie also ruhig selbst einmal aus, ob Sie vielleicht mit einem zusätzlichen Try-Fail-Cycle die Handlung Ihres Romans noch stärker und besser machen können.


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