Vor kurzer Zeit hatte ich auf Twitter anlässlich eines Schreibtipps eine interessante Diskussion mit verschiedenen Autoren. Es ging dabei um das Thema, ob man, wenn man mit dem Schreiben eines Romans beginnt, bereits das Ende der Handlung kennen sollte, oder ob es nicht doch genügt, lediglich eine Idee für einen interessanten Anfang zu haben.
Bei solchen Diskussionen treffen wieder mal die unterschiedlichen Auffassungen der „Pantser“, oft auch als „Gärtner“ oder „organische Schriftsteller“ bezeichnet, und die der „Outliner“ (auch bekannt als „Architekten“, „Plotter“ oder „Planer“) aufeinander.
Im Gegensatz zu den „Outlinern“, die niemals mit dem Schreiben der Rohfassung beginnen würden, bevor sie nicht eine sehr genaue Vorstellung vom Verlauf und dem Ende ihrer Handlung haben, starten „Pantser“ das Schreiben eines Romans oft lediglich mit einer groben Idee. Sie beginnen mit dem Schreiben, ohne zu diesem Zeitpunkt notwendigerweise bereits das Ende (oder auch nur ein mögliches Ende) Ihrer Romanhandlung zu kennen. Die Inspiration beginnt bei ihnen sehr oft mit einer Variante der Frage „Was wäre, wenn…?“
Bekannte Beispiele für diese Art von Schriftstellern sind die Bestsellerautoren Stephen King und Lee Child, die beide steif und fest behaupten, dass sie ihre Romane niemals im Voraus planen.
Pantser haben gegenüber Outlinern einen entscheidenden Vorteil: Sie können sofort spontan loslegen, ohne vorher eine trockene Planungsphase durchlaufen zu müssen, die sie als lästige und unnötige Zwangsjacke für ihre Kreativität abtun. Sie lassen sich von ihrer Kreativität bzw. ihrem Unterbewusstsein während des Schreibens mit neuen Ideen und Serendipitäten überraschen.
Dafür haben sie gegenüber den Outlinern den Nachteil, dass ihre Rohfassungen oft wesentlich chaotischer und unstrukturierter sind als die der Outliner, die jeden Schritt der Reise schon im Vorfeld sorgfältig geplant hatten. Das Totholz aus offen gebliebenen Enden, niemals aufgegriffenen Hinweisen oder mitten in der Handlung spurlos verschwundenen Charakteren kann den Aufwand für die Überarbeitung eines solchen Manuskripts locker mehr als verdoppeln.
Doch dieses Manko der „Pantser“ lässt sich zumindest teilweise kompensieren, indem man ganz bewusst das Herbeiführen von Serendipitäten trainiert – jenen überraschenden Aha-Momenten, in denen sich scheinbar unzusammenhängende Details nachträglich zu einem wichtigen Handlungselement zusammenfügen. Solche Serendipitäten sind, wenn sie einem gelingen, oft noch besser und für den Leser verblüffender als fast alles, was man als Outliner am virtuellen Reißbrett entwerfen könnte.
Was sind Serendipitäten und wie kann man sie trainieren?
Serendipität ist die Bezeichnung für eine zufällige Entdeckungen, die sich zwar wunderbar ins Bild fügt, nach der man aber eigentlich gar nicht gesucht hatte. Ein gutes Beispiel für Serendipität ist die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus. Eigentlich hatte Kolumbus sich aufgemacht, um einen Seeweg nach Indien zu finden. Was er fand, war Amerika.
Serendipität beim Romanschreiben ist, wenn Sie ganz spontan in einem Ihrer früheren Kapitel eine bestimmte Figur eingebracht haben, weil es Ihnen damals einfach als gute Idee erschien, ohne dass Sie zu diesem Zeitpunkt bereits eine konkrete Idee gehabt hätten, was Sie mit dieser Figur anfangen sollen. Einige Kapitel später liefert Ihr Unterbewusstsein Ihnen plötzlich die Idee, dass diese Person vielleicht einen wichtigen Hinweis haben könnte, da sie sich zu einem gewissen Zeitpunkt an einem ganz bestimmten Ort aufgehalten hatte. Ein schöner Gedankenblitz, den Sie direkt umsetzen – und nachher im fertigen Roman sieht alles für den Leser so aus, als ob Sie das von Anfang an geplant hätten und die Figur nur deshalb anfangs in die Handlung hinein geschrieben hatten.
So etwas ist natürlich Trainingssache. Wenn Sie schon jahrelang schreiben, ohne sich an einen festen Plan zu halten, jongliert Ihr Unterbewusstsein ohnehin im Hintergrund permanant mit den ganzen Bällen, Kegeln, rotierenden Motorsägen und brennenden Hamstern, die Sie ihm beim spontanen Schreiben so nonchalant zuwerfen. Und wenn es die Möglichkeit sieht, einen dieser noch scheinbar nutzlos in der Luft schwebenden Gegenstände wie ein passendes Puzzleteil an einer geeigneten Stelle einzusetzen, liefert es Ihnen den dazu passenden Gedankenblitz.
Diese nützliche Fähigkeit kann man sogar trainieren. So können Sie, wenn Sie beim Schreiben die ganz spontane Idee haben, eine bestimmte Person, einen Gegenstand oder ein bestimmtes Ereignis in die Handlung hinein zu schreiben, parallel dazu eine Karteikarte mit allen Details dazu, die Sie bereits wissen (bzw. die Sie schon auf den Seiten Ihres Romans erwähnt haben) anfertigen und auf einen Stapel „offene Punkte“ legen.
Wichtiger Tipp: Notieren Sie unbedingt (z.B. auf die Rückseite der Karteikarte), in welchem Kapitel bzw. welcher Szene Sie dieses Detail eingebracht haben. Warum, sage ich Ihnen gleich…
Während Sie nun Ihrem Unterbewusstsein weiter diverse Gegenstände zuwerfen, mit denen es jonglieren soll, wächst Ihr Kartenstapel langsam, aber unaufhaltsam. Damit Sie diese Dinge nicht aus den Augen verlieren und am Ende nicht zu viele lose Enden in der Rohfassung Ihres Romans flicken müssen, sollten Sie diesen Karteikartenstapel einmal täglich, idealerweise abends kurz vor dem zu Bett gehen, durchlesen bzw. durcharbeiten.
Fragen Sie sich bei jeder Karte: Basierend auf dem, was ich bis jetzt über die Handlung weiß – was könnte diese Person, dieser Hinweis oder dieser Gegenstand bedeuten?
Oft genug macht es früher oder später „klick“, und Sie wissen auf einmal ganz genau, was diese Information zu bedeuten hat. Der Kugelschreiber mit dem Monogramm auf dem Schreibtisch gehörte dem ermordeten Industriellen und der Penner mit den verdächtig neu aussehenden Schuhen hatte diese der Leiche des verschwundenen Privatdetektivs abgenommen, die niemals gefunden wurde. Heureka!
Oft haben Sie diese Ideen nicht einmal, während Sie Ihre Karten durchsehen, sondern erst am nächsten Morgen oder irgendwann im Laufe des Tages, während Sie gerade irgendeiner langweiligen bzw. geistig anspruchslosen Tätigkeit nachgehen. Autofahren, Bügeln oder Rasen mähen sind dafür ebenso geeignet wie ein entspannendes Wannenbad. Wichtig ist, dass Sie Ihr Unterbewusstsein regelmäßig (also täglich!) abends neu auf die noch offenen Punkte ansetzen und ihm den Auftrag geben, sich einen Reim darauf zu machen. Gerade über Nacht arbeitet Ihr Unterbewusstsein auf Hochtouren, um in Form von Träumen die Erlebnisse des Tages und alles, was Ihnen sonst noch so im Kopf herum geht, zu verarbeiten. Und die Dinge, mit denen Sie sich zuletzt beschäftigt haben (in dem Fall die offenen Punkte Ihrer Romanhandlung) haben eine besonders hohe „Verarbeitungspriorität“.
Dennoch wird es immer Dinge geben, für die auch Ihr Unterbewusstsein keinen passenden Platz findet – oder zumindest keinen, der Ihnen gefällt. Sie sind der Autor und es steht Ihnen frei, jede Idee, die Ihr Unterbewusstsein Ihnen einflüstert, zu verwerfen und es wieder an die Arbeit zu schicken: „Nette Idee, aber passt nicht. Probiers nochmal.“
Wenn Sie Ihren Roman fertig geschrieben haben, werden Sie mit ziemlicher Sicherheit noch einige Karteikarten mit Personen, Details und rätselhaften Ereignissen übrig haben, für die Sie keine Existenzberechtigung und keine logische Erklärung gefunden haben. Diese offenen Enden müssen Sie bei der Überarbeitung Ihres Romans ausmerzen, um Ihre Leser nicht zu verwirren.
Dafür ist es wichtig, dass Sie anfangs, wie von mir vorgeschlagen, auf die Rückseite jeder Karte notiert haben, in welchem Kapitel bzw. welcher Szene Sie diese Details verwendet haben.
So können Sie diese bei der Überarbeitung Ihres Manuskripts mit minimalem Aufwand aufspüren und eliminieren, ohne dafür nochmal den kompletten Roman Seite für Seite durcharbeiten zu müssen.
Wenn Sie sich eher als „Pantser“ als als „Outliner“ betrachten, sollten Sie diese Technik einmal ausprobieren. Ich bin davon überzeugt, dass Sie mit dem Ergebnis äußerst zufrieden sein werden.