Show, don’t tell: Schreiben mit allen Sinnen

„Show, don’t tell!“ Diese kurze und knappe Regel („Berichte nicht, sondern zeige!“) ist so wichtig, dass jeder Schriftsteller sie sich ausdrucken und über seinen Monitor kleben sollte, damit sie ihm immer wieder ins Auge springt.

Zunächst einmal bedeutet dies, dass wir den Leser durch das, was wir ihm zeigen, seine eigenen Schlüsse ziehen lassen, statt ihm die Schlussfolgerungen aufzudiktieren, die wir für richtig halten. Statt also zu sagen »Fred war ein fauler, schlampig gekleideter Mann.« schildern Sie besser Freds langsame, träge Bewegungen, seine ausgebeulte, fleckige Jogginghose und die alten Tennissocken mit dem Loch an der großen Zehe, das man durch die ausgelatschten Sandalen deutlich sehen kann. Ein paar solcher Details reichen voll und ganz, damit sich vor dem geistigen Auge des Lesers ein lebendiges Bild von Fred zusammensetzt.

Um den Leser tief in unseren Roman hinein zu ziehen und ihn ganz in der Handlung versinken zu lassen, müssen wir dabei alle seine Sinne ansprechen. Natürlich nimmt das Sehen den größten Teil unserer bewussten Wahrnehmung ein, wenn wir nicht gerade blind sind oder eine starke Sehbehinderung haben, aber machen wir uns doch einmal bewusst, wie vielfältig unsere Sinneswahrnehmungen wirklich sind.

Wie flach und unvollständig wäre unsere Wahrnehmung unserer Umwelt, würden wir uns nur auf das beschränken, was wir sehen? Stellen Sie sich vor, Sie wären taub. Keines der vielen leisen oder lauten Geräusche Ihrer Umwelt würde zu Ihnen durchdringen.

Okay? Dann kapseln wir Sie noch weiter von der Umwelt ab. Sie können nichts mehr riechen – weder den aromatischen Duft des Kaffees aus der Küche noch jenen Hauch von Parfum, der immer noch an dem Kleidungsstück über der Stuhllehne haftet.

Sie können auch nichts mehr schmecken. Auch nicht fühlen. Sie können nicht mehr die Struktur des Stoffs Ihrer Kleidung unter Ihren Fingerspitzen spüren. Genauso wenig, wie Sie noch die Stelle an Ihrem Knöchel spüren, wo Ihre neuen Schuhe Ihnen die Haut aufgescheuert haben.

Nehmen wir Ihnen als letztes noch Ihre Emotionen. Wo immer Sie hingehen, was immer Sie sehen … Sie empfinden nichts dabei. Sie können weder den majestätischen Ausblick von einem verschneiten Berggipfel genießen, noch jenes diffuse Unbehagen empfinden, das einen an manchen unheimlichen Orten beschleicht.

Was bleibt, ist eine seelenlose Überwachungskamera. Denken Sie an die Webcams, die Sie im Internet für alle möglichen Orte der Welt finden. Webcams, die rund um die Uhr das Treiben an einer Straßenkreuzung in Portland oder im Hafen von San Francisco übertragen. Aber können uns diese Übertragungen fesseln? Können wir uns eine halbe Stunde oder länger vor eine solche Übertragung setzen und fasziniert das belebte Treiben auf einer Piazza in Rom beobachten?

Nein? Dann stellen Sie sich einmal vor, Sie säßen jetzt in einem kleinen Ristorante auf eben dieser Piazza vor einem Campari und beobachteten ganz entspannt genau diese Szene, während eine bunte Vielfalt appetitlicher Gerüche und das Klappern von Geschirr aus der Küche zu Ihnen dringt.

Was würden Sie hören, riechen, fühlen? Vergleichen Sie diesen schillernden Regenbogen möglicher Sinneswahrnehmungen mit dem eng begrenzten Spektrum, das eine Webcam übertragen könnte. Welche von beiden Varianten würden Sie bevorzugen? Das Leben mit allen Sinnen wahrzunehmen? Sehen Sie, ich auch … und genauso die potenziellen Leser unserer Romane.

Achten Sie bereits beim Schreiben Ihres Rohscripts darauf, möglichst alle sechs Sinne (sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken, empfinden) anzusprechen. Wenn Sie es schaffen, auf jeder Buchseite mindestens drei unterschiedliche Sinne anzusprechen, sind Sie gut. ;-)

Denken Sie dabei daran, dass wir mehr das Außergewöhnliche als das Gewöhnliche wahrnehmen und bewusst registrieren. Wenn Sie nach Hause kommen und finden auf Ihrer Couch eine schwarze Lederjacke, die Sie noch nie in Ihrem Leben gesehen haben, wird Ihnen diese direkt ins Auge springen.

Jemand anders, der noch nie bei Ihnen zuhause war, wird vielleicht eher Ihre Lampen, den schönen Teppich oder die Regalwand mit den Büchern registrieren.

Dies müssen Sie berücksichtigen, wenn Sie eine Szene aus der Sicht einer bestimmten Person schreiben. Wenn Ihre Protagonistin einen Raum betritt und dort ihren Schwager sieht, wird sie nicht denken: „Oh, da ist Peter, der Bruder meines Mannes.“, sondern höchstens „Oh, da ist Peter.“

Genauso wenig wird sie bewusst Peters Halbglatze oder seine Brille registrieren, da Peter seit Jahren eine Halbglatze und eine Brille hat und sie ihren Schwager alle paar Wochen sieht. Ihr würde eher ein ungewohntes Detail auffallen, z.B. dass Peters Hemd zerknittert und schlecht gebügelt wirkt, obwohl Peter doch sonst so sehr auf sein Äußeres achtet.

Wenn Sie also Peter das erste Mal in die Handlung einführen wollen, sollte dies aus der Perspektive einer Person geschehen, die Peter noch nie (oder zumindest seit geraumer Zeit nicht mehr) gesehen hat.

Wenn Sie die prunkvolle Büroeinrichtung eines reichen Börsenmaklers beschreiben wollen, machen Sie das bloß nicht aus seiner Perspektive. Für ihn ist es nur ein Schreibtisch. Er wird weder die kostbar gedrechselten Holzarbeiten noch die wunderschön gemaserte Marmorplatte bewusst wahrnehmen, da sie für ihn alltäglich sind.

Schildern Sie sein Büro stattdessen aus der Sicht eines Paketboten oder einer Frau, die sich dort um einen Job als Sekretärin bewirbt, können Sie ganz andere Details einbringen.

Berücksichtigen Sie hierbei auch den Bildungshorizont und die Kenntnisse der Person, aus deren Perspektive Sie gerade schreiben. Für den Paketboten trägt der Börsenmakler einfach nur eine protzige goldene Uhr, einer seiner Freunde aus dem Golfclub wird diese Uhr hingegen gleich als eine ‚Rolex Oyster Perpetual Yachtmaster II‘ identifizieren.

Eine Floristin bemerkt auf ihrer Bergwanderung prachtvolle Dichter-Narzissen, ihr Mann sieht bestenfalls ein paar ‚weiße Blumen‘.

Denken Sie auch daran, was bestimmte Beobachtungen für die Person bedeuten. Sich hoch auftürmende Wolken am Horizont mögen für einen Touristen nur ein schöner Anblick sein, für einen Seemann bedeuten sie hingegen ein aufziehendes Unwetter.

Wie wir (und somit auch die Charaktere, aus deren Sicht wir schreiben) unsere Umwelt wahrnehmen, hängt nicht zuletzt auch von unserer Stimmung ab. Stellen Sie sich einen Mann vor, der an einem einsamen Strand entlang geht.

Version 1: Der Mann ist ein gestresster Manager, der endlich einmal Zeit gefunden hat, eine Woche Urlaub mit seiner Familie zu machen. Während Frau und Kinder noch schlafen, nutzt er die Zeit, um endlich einmal wieder einen dieser herrlichen Sonnenaufgänge am Strand zu genießen.

Version 2: Der Mann ist aus einem nahe gelegenen Ort allein an den Strand zu fahren, um sich über ein paar Dinge klar zu werden. Er hat gerade seinen Job verloren und zudem auch noch erfahren, dass seine Frau ihn betrügt und seine Tochter nicht von ihm ist. Er überlegt, ob es nicht am einfachsten wäre, ins Meer hinaus zu schwimmen, bis ihn die Kräfte verlassen – nur, damit alles vorbei ist.

Klar, besonders das zweite Beispiel ist gnadenlos klischeehaft überzogen – aber versuchen Sie doch einmal in Gedanken, dieses Strandszenario aus der Sicht dieser beiden unterschiedlichen Männer zu beschreiben.

Beide sehen den selben Strand, hören das Rauschen der Wellen und das Kreischen der Möwen, riechen das salzige Wasser und den Seetang und spüren den kühlen Wind. Doch was der eine als friedlich und erholsam betrachtet, wird der andere als kalt, einsam und deprimierend empfinden.

Wenn Sie diese Regeln immer im Hinterkopf behalten, wird Ihr Roman deutlich an Farbe, Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit gewinnen.


Tipp: Abonnieren Sie den kostenlosen WritersWorkshop Autorennewsletter und erhalten Sie alle neuen Beiträge direkt am Erscheinungstag ganz bequem per Mail.