Von Charakter-Fragebögen, Charakter-Dossiers und Casting für Charaktere…

Wenn es um den Entwurf von Romanfiguren (und ganz speziell Protagonisten) geht, liest man häufig den Tipp, zu dieser Figur einen Charakter-Fragebogen auszufüllen, um sie besser kennenzulernen. Der dahinter liegende Gedanke ist zwar richtig, doch der Ansatz mit dem Charakter-Fragebogen zäumt das Pferd leider von hinten auf.

Natürlich ist es richtig, dass man als Schriftsteller seine Romanfiguren und speziell seinen Protagonisten sehr gut kennen muss – sogar besser, als man die meisten ‚realen‘ Personen im eigenen Umfeld kennt. Denn wie will man glaubwürdig aus der Perspektive einer Person schreiben und eine Handlung entwickeln, die der Leser später als realistisch und plausibel empfindet, wenn man sich nicht gut genug in die Gedanken, Motive und Pläne dieser fiktionalen Person hineinversetzen kann, um sie realistisch handeln zu lassen?

Doch mit dem Ausfüllen eines Charakter-Fragebogens zu beginnen ist, so logisch und sinnvoll er einem auch auf den ersten Blick erscheinen mag, dennoch der falsche Ansatz.

Ich möchte hier ganz bewusst zwischen einem Charakter-Bogen (oder auch ‚Charakter-Dossier‘) und einem Charakter-Fragebogen differenzieren. Auch wenn beide in ausgefülltem Zustand gar nicht so unähnlich aussehen, handelt es sich dennoch um einen völlig anderen Ansatz. Während man beim Charakter-Fragebogen (von dem ich persönlich nicht allzu viel halte) den Fragebogen der Reihe nach mit Daten füllt und hofft, dadurch einen abgerundeten Romancharakter zu erhalten, dient der Charakter-Bogen (bzw. das ‚Charakter-Dossier‘) dazu, alles festzuhalten, was man als Schriftsteller bereits über eine bestimmte Romanfigur weiß. Um Verwechslungen zu vermeiden, werde ich diese Variante im Rest des Artikels als ‚Charakter-Dossier‘ bezeichnen.

Charakter-Dossiers sind eine feine Sache, auf die man als Schriftsteller kaum verzichten kann. Sie sorgen dafür, dass man beim Schreiben stets die Übersicht behält und nicht Gefahr läuft, sich im Laufe der Romanhandlung durch vergessene oder verwechselte Details selbst zu widersprechen. Selbst bekannten Schriftstellern passiert es gelegentlich, dass eine Person im Laufe des Romans beispielsweise ihre Augenfarbe wechselt oder dass ihr Name ab einer bestimmten Stelle des Romans auf einmal anders geschrieben wird. Solche ärgerlichen Detailfehler entgehen leider viel zu häufig sogar den Lektoren klassischer Verlage, so dass sie es bis ins gedruckte Buch schaffen und dann für negative Rezensionen durch ebenso aufmerksame wie kritische Leser sorgen.

Charakter-Dossiers verhindern, dass man auf Seite 10 eine Figur mit schütterem Haar schildert und diese Person sich dann auf Seite 90 mit den Händen nervös durch ihre dicken Locken fährt. Alles, was man über eine Romanfigur, ihre Eigenschaften, Kenntnisse, Vorlieben und Vergangenheit auf den Seiten des Romans bereits erwähnt hat, gehört definitiv in das Charakter-Dossier dieser Figur – ob es nun die Tatsache ist, dass die Person Linkshänder ist, dass sie einen auffälligen Siegelring trägt oder dass, wie Sie sich beim Schreiben einer Dialogszene überlegt haben, die Eltern der Romanfigur 1993 bei einem Autounfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen sind.

Doch während ein solches Dossier während der Entstehung eines Romans erst nach und nach wächst, da man als Schriftsteller während des Schreibens seine Romancharaktere immer besser kennen lernt und neue Details über sie entdeckt, erfindet und einfließen lässt, erinnert der ‚Charakter-Fragebogen‘ mehr an eine ‚Lego-Bauanleitung für Romanfiguren‘.

Bei dem an sich löblichen Versuch, den Schriftsteller beim Entwurf abgerundeter und realistischer Charaktere zu unterstützen, fangen solche Fragebögen (was einem ja auch an sich durchaus logisch erscheint) üblicherweise mit den ‚Eckdaten‘ einer Figur an, die man auch auf einem Steckbrief finden könnte (Name, Alter, Größe, Haar- und Augenfarbe…), und gehen dann mehr ins Detail, indem man oft mehrere Seiten lang Angaben wie Beruf, Familie, Kleidungsstil, Lieblingsfarbe und Lieblingsessen ausfüllt.

Ich habe überhaupt nichts gegen die Fragen aus diesen Fragebögen. Solche Details über die Figuren und speziell den eigenen Protagonisten zu wissen, ist selbstverständlich nützlich, da man sie bei verschiedenen Gelegenheiten in die Handlung einstreuen und so den Eindruck eines realen Menschen erzeugen kann.

Das Ausfüllen eines solchen Fragebogens ist allerdings der komplett falsche Ansatz, um mit dem Entwurf einer wichtigen Romanfigur wie des Protagonisten zu beginnen. Wenn Sie beispielsweise überlegen, sich ein neues Auto zu kaufen, würden Sie vermutlich auch erst einmal abwägen, ob Sie einen wendigen Kleinwagen, einen geräumigen Kombi, ein sportliches Cabrio oder ein bulliges SUV mit Allrad brauchen, welche Marken in Frage kommen und auf welche Leistungsmerkmale Sie Wert legen, bevor Sie sich über Details wie das Textilmuster der Sitze oder die passenden Alu-Felgen Gedanken machen.

Einen interessanten Protagonisten, dem der Leser auf seinem Abenteuer folgen möchte, kann man nicht nach Schema F innerhalb weniger Minuten durch das Ausfüllen eines standardisierten Fragebogens entwerfen.

So etwas kann man für unwichtige Nebenfiguren im Roman machen, aber nicht für die wirklich wichtigen Rollen innerhalb des Romans wie den Protagonisten oder den Antagonisten.

Der bessere Ansatz ist, mit dem Entwurf des Protagonisten von innen nach außen anzufangen und Details wie Name, Aussehen oder auch den Beruf erst später zu ergänzen.

Wenn Sie auch nur zu früh den Namen einer Figur festlegen (üblicherweise ist das bereits die erste Frage eines solchen Charakter-Fragebogens!), beschneiden Sie sich selbst in Ihren Möglichkeiten und schließen Optionen aus, die vielleicht die weitaus bessere Wahl gewesen wären.

Wenn Sie beispielsweise damit anfangen, dass Sie über einen Polizisten schreiben wollen, und diesen Frank Weller nennen, haben Sie den größten Teil Ihrer Optionen bereits von vorneherein ausgeschlossen. Vielleicht würde Ihre Story noch viel besser, wenn Ihr Protagonist kein Polizist, sondern eine Polizistin wäre. Oder kein Deutscher, sondern ein Italiener oder Tunesier. Je nachdem, welche Ideen Sie bereits für Ihre Handlung haben, kann eine andere Nationalität, eine andere Religion oder ein anderes Geschlecht der Hauptfigur ganz neue Konflikte aufwerfen und Ihnen neue dramatische Möglichkeiten erschließen.

Der beste Ansatz ist daher, zu Beginn lediglich die Eckdaten festzulegen, die von entscheidender Bedeutung für Ihre geplante Romanhandlung sind. Wenn Sie also eine Geschichte über einen einbeinigen Bergsteiger schreiben, der sich aufmacht, den Mount Everest zu besteigen, spielt es zunächst einmal keine Rolle, wie dieser Bergsteiger heißt, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, welche Nationalität er besitzt oder ob es das linke oder das rechte Bein ist, das ihm fehlt.

Solange Sie selbst nur ganz abstrakt als „der einbeinige Bergsteiger“ von Ihrem Protagonisten denken und nicht der Versuchung nachgeben, ihm einen Namen und ein Gesicht zu verpassen, halten Sie sich alle Möglichkeiten offen.

Um einen Protagonisten „von innen nach außen“ zu entwickeln, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die wir uns in den nächsten Wochen noch näher anschauen werden.

„Protagonist gesucht. Voraussetzungen sind…“

Eine bewährte Methode für die „Besetzung der Hauptrolle“ ist ein virtuelles Casting für die Rolle des Protagonisten. Formulieren Sie dafür anhand der Eckdaten, die Sie für Ihren Protagonisten festgelegt haben, eine fiktionale Stellenbeschreibung. Diese sollte alle Merkmale und Qualifikationen umfassen, die Sie für Ihre Handlung als wichtig bzw. unabdingbar betrachten, sowie unter „wünschenswert“ die Eigenschaften oder Fähigkeiten, die zwar erwünscht, aber nicht zwingend erforderlich sind.

Erstellen Sie nun drei bis fünf Charakterprofile von Personen, die sich auf diesen „Job“ als Protagonist bewerben könnten. Achten Sie darauf, dass diese Personen innerhalb des Rahmens der gesteckten Eckdaten so unterschiedlich wie möglich sind.

Für die Stellenbeschreibung „Gesucht: einbeiniger Bergsteiger (m/w), der den Mount Everest besteigen will. Wünschenswert wären Sprachkenntniss in Nepali und/oder Chinesisch sowie Survival-Kenntnisse“ könnten sich z.B. folgende Charaktere bewerben:

  1. Chuck Jones, 32 Jahre, USA: ehemaliger Stuntman, der bei Dreharbeiten schwer verletzt wurde und sein Bein verloren hat. Drehte oft mit asiatischen Schauspielern und Stuntleuten bei Martial-Arts-Filmen und spricht daher gebrochen Chinesisch. Durch die Besteigung des Mount Everest will Chuck die Aufmerksamkeit von Filmproduzenten auf sich lenken, um so seine Rückkehr ins Filmgeschäft zu erreichen.
  2. Sandrine Dubois, 38 Jahre, Kanada: erfahrene Bergsteigerin, die bei einem Autounfall ihr Bein verloren hat. Sie will sich und anderen beweisen, dass eine solche Behinderung sie nicht daran hindern kann, alle sieben Berge der „Seven Summits“ zu besteigen.
  3. Gunnar Hendriksen, 46 Jahre, Norwegen: Survival-Experte und Naturfilmer. Hendriksen hatte seine eigene Fernsehsendung, in der er von seinen abenteuerlichen Wildnis-Expeditionen in Afrika und Südamerika berichtete. Nachdem er beim Angriff eines Löwen schwer verletzt wurde und monatelang ausfiel, verlor er seine Sendung. Hendriksen plant die Besteigung des Mount Everest mit seinem Kameramann Trond und will so Material für eine atemberaubende neue Doku-TV-Serie über seine Besteigung des Mount Everest sammeln.

Diese Charakterentwürfe habe ich innerhalb von ein paar Minuten rasch heruntergeschrieben. Mit etwas Zeit und Mühe kann man hier natürlich noch weitaus bessere und ungewöhnlichere Charaktere entwerfen.

Sobald Sie mindestens fünf mögliche Kandidaten zusammen haben, nehmen Sie diese bei einem virtuellen Casting der Reihe nach unter die Lupe. Jeder der Entwürfe hat sein ganz eigenes Potential und erschließt einem ganz andere Optionen für die Handlung, die anderen Figuren nicht offen stehen.

Als Stuntman dürfte Chuck gefährliche Situationen gut einschätzen können und ist vermutlich in der Lage, durch jahrelang geübte Fall-Techniken Stürze mit nicht mehr als ein paar Schrammen zu überstehen, bei denen manch anderer sich üble Prellungen oder gar Knochenbrüche zugezogen hätte. Dies könnte helfen, seine fehlenden Survival-Erfahrungen auszugleichen.

Sandrine hat durch ihre bisherige Erfahrung als Bergsteigerin die beste Qualifikation. Sie weiß, was sie bei einer solchen Expedition erwartet und kann diese Erfahrungen nutzen, um eine speziell auf sie zugeschnittene flexible Metallprothese mit Steigeisen zu entwickeln, die ihr Handicap so weit wie möglich ausgleicht.

Gunnar und sein Kameramann könnten hingegen in eine gefährliche Situation geraten, als Trond mit seiner Filmkamera unwissentlich etwas aufnimmt, was unentdeckt bleiben sollte. Und ehe er sich versieht, verwandelt sich die Expedition in ein tödliches Katz- und Maus-Spiel mit einem gefährlichen, gut ausgerüsteten und zu allem entschlossenen Gegner.

Nehmen Sie sich die Zeit, die Motivation, die Fähigkeiten, die Schwächen und die Handicaps der unterschiedlichen Charaktere abzuklopfen und gegeneinander abzuwägen. Sammeln Sie Ideen für Plot-Wendungen und Komplikationen, die nur mit dieser Person als Protagonist möglich wären.

Sobald Sie sich für einen der ‚Bewerber‘ entschieden haben, sind Sie einen großen Schritt weiter: nicht nur, weil Sie sich für einen Protagonisten entschieden haben, sondern auch, weil Sie ganz genau wissen, warum Sie sich gerade für diesen Kandidaten entschieden haben.

Von diesem ersten Entwurf ausgehend können Sie Ihren Protagonisten dann weiter bearbeiten und verfeinern. Die besten Techniken dafür schauen wir uns ab der kommenden Woche an.