Wie Sie als Schriftsteller den Zeigarnik-Effekt nutzen

Ich finde Psychologie generell interessant, besonders jedoch die Aspekte, die Einfluss auf unsere persönliche Produktivität und unseren Erfolg haben.

Ein relativ unbekannter, aber äußerst nützlicher Aspekt ist gerade für Schriftsteller der sogenannte Zeigarnik-Effekt. Benannt wurde er nach der russischen Psychologin Bluma Zeigarnik (eigentlich: Bljuma Wulfowna Seigarnik), die in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts an der Humbold-Universität in Berlin arbeitete.

Zeigarnik entdeckte, dass sich Versuchspersonen unter bestimmten Bedinungen wesentlich besser an unerledigte Aufgaben erinnerten als an abgeschlossene Aufgaben. Dieser Effekt wird im Fachjargon auch gerne als Cliffhanger-Effekt bezeichnet – und mit Cliffhangern kennen wir als Autoren uns ja aus.

Der Cliffhanger im Roman oder der TV-Serie lässt den Protagonisten beim Wechsel auf einen anderen Handlungsstrang (oder am Ende einer Episode) in einer dramatischen, wenn nicht gar gefährlichen Situation zurück, bei der der Leser unbedingt erfahren möchte, wie es weiter geht.

Und genau wie wir die Leser unserer Romane mit dem gezielten Einsatz von Cliffhangern über Kapitelübergänge oder andere mögliche Stolpersteine hinwegspülen und zum Weiterlesen animieren können, können wir den Zeigarnik-/Cliffhanger-Effekt auch nutzen, um unsere persönliche Produktivität beim Schreiben zu steigern.

Klingt kompliziert, ist aber in der Praxis ganz einfach: Genau wie wir im Roman das Kapitelende nicht auf einen natürlichen Endpunkt nach Abschluss einer dramatischen Situation oder eines Konflikts legen, sondern das Kapitel genau dort beenden, wo es am spannendsten ist, hören wir auch mit dem Schreiben an der subjektiv empfunden ‚falschen‘ Stelle auf.

Statt also so lange zu schreiben, bis wir ein Kapitel oder eine Szene komplett abgeschlossen haben oder gar an einem Punkt angekommen sind, an dem wir nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll, hören wir stattdessen bereits zu einem Zeitpunkt auf, an dem wir noch ganz genau wissen, was wir als Nächstes schreiben wollen. Wie heißt es doch so schön: Man sollte aufhören, wenn es am Schönsten ist. ;-)

Schon Hemingway verstand es, diese Technik für sich zu nutzen – auch wenn er vermutlich niemals von Bluma Zeigarnik und ihren Forschungen gehört hatte. Hemingway sagte, man solle beim Schreiben immer noch etwas Wasser im Brunnen lassen – also nicht schreiben, bis man sich ‚ausgetrocknet‘ oder ‚leer‘ fühlt, sondern solange man eigentlich noch weiter schreiben könnte.

Dieser Ansatz hat gleich zwei Vorteile. Erstens verhindert er Schreibblockaden. Denn wenn man immer erst dann mit dem Schreiben aufhört, wenn man keine Idee mehr hat, wie es weiter gehen soll, trainiert man sich selbst auf eine Situation des Mangels – des Mangels an Ideen und Kreativität. Man steht unter Druck, eine Lösung bzw. die nächsten logischen Schritte zu finden, bevor man sich zum nächsten Mal wieder ans Schreiben setzt. Und wenn man diese noch nicht gefunden hat, wird man davor zurückscheuen (oder sich gar davor drücken), sich überhaupt wieder ans Schreiben zu setzen.

Hat man hingegen noch genügend Stoff für die nächsten Seiten im Kopf, gibt es keine psychologische Hemmschwelle, die uns daran hindert, so bald wie möglich wieder ans Schreiben zu gehen.

Ganz im Gegenteil – denn jetzt setzt der Zeigarnik-Effekt (oder auch Cliffhanger-Effekt, wenn Ihnen diese Bezeichnung lieber ist) ein. Genau wie wir uns bei einem spannenden Roman, bei dem wir aus Zeitmangel mit dem Lesen aufhören mussten, oder beim Cliffhanger-Ende der letzten Episode unserer Lieblings-TV-Serie häufig erwischen, wie wir darüber nachdenken, wie es wohl weitergehen wird, denken wir auch umso häufiger an unser Schreibprojekt, wenn wir an einer Stelle herausgerissen wurden, an der wir eigentlich gerne noch länger weitergeschrieben hätten.

Und selbst wenn wir es gar nicht bewusst registrieren, beschäftigt sich auch unser Unterbewusstsein regelmäßig mit diesen offenen Punkten. Wir kennen das alle von Aufgaben, die wir noch nicht abgeschlossen haben und die wir vor uns herschieben. Dieses ungute Gefühl oder schlechte Gewissen, das uns meist gerade in den Momenten überkommt, in denen wir gar nichts daran ändern können. Das ist der Zeigarnik-Effekt in Aktion. Die Dinge, die wir abgeschlossen haben, vergessen wir. Erledigt und ad acta gelegt. Doch die offenen Dinge, um die wir uns noch kümmern müssen, rotieren ständig in unserem Kopf wie die Teller auf den Holzstäben eines chinesischen Jongleurs.

Bezogen auf unser Schreibprojekt ist das eine gute Sache. Denn hier ist es nicht der sich drehende Holzstab des chinesischen Teller-Jongleurs, sondern eher das sich drehende Holzstäbchen in einem Zuckerwatte-Topf auf dem Jahrmarkt. Genau wie sich bei der Zuckerwatte mit jeder Drehung des Stäbchens mehr leckere Zuckerwatte am Holzstäbchen anlagert, lagern sich auch umso mehr neue Ideen an unser übrig gelassenes Ideenfragment an, je öfter und länger unser Unterbewusstsein es in unserem Kopf rotieren lässt.

Übertragen auf Hemingways Vergleich mit dem Brunnen füllt sich unser kreativer Ideen-Brunnen langsam wieder auf – aber dafür muss eben noch ein wenig Grundwasser übrig bleiben, genau wie die Zuckerwatte auf dem Jahrmarkt ein Stäbchen braucht, an das sie sich anlagern kann.

In der Praxis sieht das bei mir so aus, dass ich mir fürs Schreiben zeitliche statt quantitativer Ziele setze. Also keine der klassischen Vorgaben wie „jeden Tag 500 Wörter schreiben“, sondern ein ganz bescheidenes „jeden Morgen 30 Minuten schreiben“.

Diese Zeit ist keine Untergrenze im Sinne von „mindestens 30 Minuten, möglichst jedoch mehr“, sondern ein festes Limit. 30 Minuten – und keine Minute mehr.

Zum Beginn einer Schreibsession, also sobald ich mein Schreibprogramm gestartet, mein aktuelles Dokument geladen und mir die letzten 2-3 Absätze noch einmal durchgelesen habe, starte ich meinen Timer. Dafür verwende ich den kostenlosen SnapTimer. Dieser hat den Vorteil, dass ich ihn unabhängig davon, mit welchem Programm ich arbeite, permanent im Vordergrund halten kann. So kann ich nie aus den Augen verlieren, wie viel Zeit mir noch bleibt.

In diesen 30 Minuten arbeite ich konzentriert und so zügig wie möglich an meinem Text weiter – und zwar bis zur letzten Sekunde. Doch sobald der Timer läutet, ist die Schreibzeit um. Das ist ein bisschen wie früher bei den Klassenarbeiten: sobald die vorgegebene Zeit um war, musste man auch dort den Stift hinlegen, wenn man nicht eine 6 riskieren wollte.

Manche Fans der Zeigarnik-Methode befürworten, dass man tatsächlich in dem Moment, in dem der Timer läutet, die Finger von den Tasten nimmt, als müsse man ansonsten einen Stromschlag über die Tastatur befürchten. Das führt natürlich dazu, dass man in den allermeisten Fällen irgendwo mitten im Satz aufhört.

Das ist mir persönlich etwas zu extrem. Mitten im Satz aufzuhören setzt meiner Meinung nach den Fokus unseres Unterbewusstseins zu sehr auf diesen einen, im Gesamtbild des Manuskripts relativ unwichtigen Satz und zu wenig auf das große Ganze. Je nachdem, wie lang und komplex der Satz war, bekommt man ihn dennoch bei der nächsten Schreibsession nicht richtig komplettiert, sondern löscht letztendlich doch den begonnenen Satzanfang wieder weg und schreibt eine neue, andere Version des Satzes.

Darin sehe ich persönlich weder einen Sinn noch einen Nutzen. Ich schreibe daher, wenn der Timer läutet, den gerade angefangenen Satz noch zu Ende, bevor ich die Finger von den Tasten nehme und meinen Text speichere.

Damit ist allerdings meine morgendliche Schreibsession noch nicht ganz beendet. Zunächst notiere ich noch in meinem Moleskine unter dem heutigen Datum, wie es weiter gehen soll. Dazu halte ich stichwortartig den Gedanken fest, den ich beim Schreiben zuletzt gerade verfolgte, und was ich als Nächstes noch geschrieben hätte, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte.

Das dauert in der Praxis maximal fünf Minuten, meist weniger. Mit diesen rasch aufs Papier geworfenen Notizen stelle ich sicher, dass ich nichts Wichtiges vergesse, worüber ich mich im Nachhinein ärgern würde.

Dadurch, dass ich nicht etwa eine Szene, einen Abschnitt oder ein Kapitel meines laufenden Buchprojekts fertig geschrieben habe, sondern ganz abrupt mittendrin vom Timer herausgerissen wurde, wird der Zeigarnik-Effekt aktiviert.

Unser Unterbewusstsein hat das Bedürfnis nach Abschluss und Komplettierung. Das merkt man auch immer wieder im Alltag. Bestimmt kennen auch Sie den Effekt, dass Sie eine TV-Serie mit einem die gesamte Staffel überspannenden Handlungsbogen Woche für Woche hartnäckig weiter ansehen, obwohl die Serie Sie schon lange nicht mehr so richtig fesselt – und zwar nur, weil Sie wissen wollen, wie alles am Ende ausgeht.

Oder denken Sie an die Sammler-Editionen, mit denen Verlage wie der De Agostini Verlag ihr Geld verdienen: Wenn jemand erst mal die ersten 3-4 Teile einer solchen Sammlung gekauft hat, stehen die Chancen recht gut, dass er auch alle weiteren Teile kauft. Selbst wenn irgendwann das Interesse langsam schwindet, will er nicht die investierte Zeit und das bereits ausgegebene Geld mit einer unvollständigen Sammlung versenken, sondern wird eher trotz des abgeflauten Interesses weiter zahlen, um am Ende zumindest eine komplette Sammler-Edition vorweisen zu können.

Genauso brennt unser Unterbewusstsein darauf, dass wir die angefangene Szene / das angefangene Kapitel endlich fertig schreiben. Anstatt dass der „innere Schweinehund“ uns in seiner Bequemlichkeit zur Fernsehcouch statt an den Schreib-PC locken will, schiebt er uns geradezu mit sanfter Gewalt bei der erstbesten sich bietenden Gelegenheit in Richtung PC, damit wir die Szene endlich fertig schreiben und er sie aus dem Kopf bekommt.

Diesen Gefallen können wir ihm natürlich gerne tun. Aber da wir auch dann natürlich wieder mitten in einer Szene (egal ob noch in derselben oder bereits in der nächsten Szene) aufhören, haben wir den inneren Schweinehund wieder an der Angel – ob es ihm nun passt oder nicht.

Es gibt eine winzige Ausnahme von der Regel, die ebenso wie das Schaltjahr nur in sehr seltenen Fällen zum Tragen kommt: Wenn ich tatsächlich mit dem einen Satz, den ich nach dem Läuten des Timers noch zu Ende schreiben darf, eine Szene oder ein Kapitel beende, beginne ich danach noch eine neue Seite und schreibe zumindest den ersten Satz des nächsten Kapitels. Kein Ende ohne offenes Ende – und ohne den Zeigarnik-Effekt zu aktivieren. ;-)


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