Ich unterhalte mich sehr gerne mit anderen Schriftstellern über ihre Arbeitstechniken und unterschiedlichen Ansätze. Viele Wege führen nach Rom: Manche planen akribisch, andere schreiben einfach drauflos; manche schreiben nicht am Computer, sondern lieber von Hand oder diktieren sogar ihre Texte; manche brauchen zum Arbeiten die Stille ihres Arbeitszimmers, während andere sich in der lebhaften Atmosphäre eines Cafés am kreativsten fühlen. Alles bestens, solange es für einen selbst funktioniert. Aber immer wieder kann ich mich nur wundern, wenn bei einem Autorenstammtisch o.ä. ein Schriftsteller erzählt, dass er sich beim Schreiben auf seine Inspiration (oder auch „auf seine Muse“) verlässt.
Diese Schriftsteller teilen meist mehrere Charakteristika:
- Sie schreiben nach eigener Aussage nur, wenn sie sich inspiriert fühlen.
- Sie leiden häufig unter Schreibblockaden.
- Sie haben selten mehr als ein Buch veröffentlicht. Die meisten gar keines. Sie werkeln seit Jahren an ihrem einen Magnus Opus und warten immer noch auf die göttliche Inspiration, die die Worte durch ihre Finger aufs Papier bzw. auf den Bildschirm fließen lässt. Darum lieben sie Filme wie „Shadows in the Sun“, in denen der geniale Schriftsteller sein ebenso geniales Manuskript innerhalb kürzester Zeit im kreativen Fieberrausch in seine alte Schreibmaschine hämmert, nachdem endlich bei ihm der gordische Knoten der Schreibblockade geplatzt ist.
Entschuldigung, wenn ich hier vielleicht ein wenig sarkastisch klinge, aber für mich passt das alles zusammen.
Nichts gegen Inspiration – eine feine Sache, genau wie Rückenwind beim Fahrradfahren. Doch man darf sich niemals darauf verlassen. Man muss auch dann ans Ziel kommen, wenn einem der Wind kalt und rauh entgegen bläst, statt einen anzuschieben.
Über Inspiration und ihre Rolle im Leben eines Schriftstellers gibt es genügend gute Zitate, von Jack London („Du kannst nicht auf Inspiration warten. Du musst sie mit einem Knüppel jagen.“) bis hin zu Peter De Vries („Ich schreibe, wenn ich inspiriert bin und ich achte darauf, dass das jeden Morgen um 9:00 Uhr passiert.“).
Für mich hat Inspiration Ähnlichkeit mit einem guten Bluff beim Poker: Es macht einen diebischen Spaß, wenn man es schafft, mit einem Paar Buben jemanden zum Aussteigen zu bewegen, der ein Full House hat. Doch allein mit Bluffen und einem guten Pokerface kommt man auf Dauer nicht weit, sondern wird eher früher als später gnadenlos untergehen. Zum Pokern gehören auch eine gute Strategie und logisches Denken – genau wie zum Schreiben.
Mit der Inspiration verhält es sich ähnlich: Manchmal kommt einem scheinbar aus dem Nichts eine ganz tolle Idee für eine Geschichte, die einen nicht mehr loslässt und die einem ein breites Grinsen ins Gesicht zaubert. Doch wenn man regelmäßig und kontinuierlich schreiben will, kann man sich nicht auf diese zufälligen Eingebungen verlassen, sondern muss lernen, auch ohne Inspiration mit der Zuverlässigkeit eines Schweizer Uhrwerks bei Bedarf eine neue Idee nach der anderen zu generieren.
Diese ‚fabrizierten‘ Ideen erscheinen einem selbst oft nicht so brillant wie die, die einem unerwartet aus dem Nichts kommen, aber das muss nicht stimmen. Auch dem Koch schmeckt sein eigenes Essen oft nicht so gut wie seinen Gästen und kein Zauberkünstler kann über seine eigenen, hundertfach einstudierten Tricks ebenso staunen wie das überraschte Publikum. Der Koch weiß, durch welche Gewürze und Zubereitungsschritte der Geschmack zustande kommt, den seine Gäste sich genüsslich auf der Zunge zergehen lassen, genau wie der Zauberkünstler nur zu genau weiß, woher das Kaninchen im Zylinder wirklich kommt und mit welchen Spiegeltricks er das Auto vor den Augen seines Publikums verschwinden lassen konnte.
Unsere ‚fabrizierten‘ Ideen haben für uns selbst nicht denselben Zauber wie jene, die uns die Inspiration oder die Muse eingegeben haben. Wir sehen das Räderwerk in ihrem Inneren und wissen, woraus sie bestehen und wie wir sie zum Laufen gebracht haben. Doch unsere Leser wissen es nicht, und für sie spielt es auch keine Rolle.
Der andere Punkt ist, dass Inspiration niemals ausreicht, um aus einer Idee einen kompletten Roman zu machen. Vielleicht eine Kurzgeschichte – das kann klappen. Die Idee zu „Spiegelschatten“ hatte ich auf einer nächtlichen Autofahrt und konnte zuhause nicht eher Ruhe finden, bevor ich nicht die komplette Geschichte zu Papier gebracht hatte. Doch ein Roman ist etwas völlig Anderes.
Wenn wir uns bei einem Mammutwerk wie einem ganzen Roman ausschließlich auf die gelegentlichen Blitzeinschläge der Inspiration verlassen, sind Schreibblockaden (im Klartext: „das Fehlen von Inspiration“) vorprogrammiert und das Romanprojekt mutiert zur Lebensaufgabe.
Die ursprüngliche Idee, die uns vielleicht die Inspiration eingegeben hat, ist oft nicht mehr als das Samenkorn, aus dem sich die Geschichte entwickelt. Manchmal entpuppt sie sich auch als das Herz der Geschichte, doch genau wie ein menschlicher Körper aus weitaus mehr als einem Herz besteht, braucht auch ein spannender, lesenswerter Roman weit mehr als nur eine brillante zentrale Idee.
Bewahren Sie die inspirierenden Ideen, die Ihnen Ihre Phantasie scheinbar aus dem Nichts eingibt, und lernen Sie, diese als zentrales Element in ein viel größeres Ganzes einzubetten, das Sie wie ein Architekt oder Ingenieur um Ihre ursprüngliche Idee herum konstruieren. Im großen Mosaik Ihres Romans kann das eine rote Juwel, das Ihre Inspiration Ihnen geschenkt hat, zum Auge des Drachen werden, der das Gesamtkunstwerk dominiert.
Abgesehen davon, dass Sie die Ideen, die Ihnen die Inspiration oder die Muse einflüstert, gut aufbewahren, hegen, pflegen und wachsen lassen, sollten Sie sich allerdings von der Inspiration lossagen, statt sich von ihr abhängig zu machen.
Trainieren Sie, jeden Tag zu schreiben, ob Sie sich nun „inspiriert“ fühlen oder nicht. Glauben Sie mir: im Nachhinein wird es sogar Ihnen selbst schwer fallen, bei der Überarbeitung die Passagen, die Sie an ‚uninspirierten Tagen‘ geschrieben haben, von denen zu unterscheiden, die Sie ‚inspiriert‘ zu Papier gebracht haben.
Doch das Erstaunlichste ist: Sobald Sie gelernt haben, auch ohne Inspiration genauso produktiv und kreativ zu schreiben, werden Sie merken, dass die Anzahl der tollen, ‚inspirierten‘ Ideen, die Ihnen Ihr Unterbewusstsein eingibt, ständig ansteigt.
Es ist überall im Leben das Gleiche: Wenn man arbeitslos ist, gibt einem niemand einen Job – doch wenn man sich aus einer ungekündigten Stellung heraus bewirbt, erscheint man den Firmen gleich viel interessanter. Ist man Langzeitsingle, ist man für das andere Geschlecht so gut wie unsichtbar – doch befindet man sich in einer festen Beziehung, erscheint man manchen dadurch erst richtig attraktiv. Genauso ist es mit der Inspiration: Bettelt man verzweifelt um Ideen, um seine Schreibblockade zu besiegen, lässt die Muse einen eiskalt am langen Arm verhungern. Doch wenn sie sieht, dass man auch ohne sie fröhlich und produktiv weiter schreibt, springt sie wie ein vernachlässigter Welpe um einen herum und versucht, mit Kunststückchen und tollen Ideen unsere Aufmerksamkeit zurück zu gewinnen. ;-)
Die unerwartete Flut an ‚inspirierten‘ Ideen, wenn man sie eigentlich gar nicht mehr braucht, kann natürlich auch damit zu tun haben, dass man sich ja bereits angewöhnt hat, tagtäglich als Rohmaterial fürs eigene Schreiben mittels Kreativitätstechniken neue Ideen zu fabrizieren.
Und genau wie Kinder aus lose herumliegenden Legosteinen die phantasievollsten Gebilde bauen, hat auch unser Unterbewusstsein mit den Resten unserer ‚Ideenproduktion‘, die wir bisher nicht verwenden konnten, genügend Rohmaterial, das es miteinander kombinieren kann, um uns mit den daraus entstandenen Ergebnissen zu verblüffen.
Und das Schöne ist: diese Ideen können Sie mit der beruhigenden Gewissheit verwenden, dass Sie niemals darauf angewiesen sein werden, auf ‚inspirierten‘ Ideen-Nachschub zu warten.