Wenn es eine Schreibregel gibt, die wohl so ziemlich jeder Schriftsteller kennt oder zumindest schon mal gehört hat, ist es „Show, don’t tell!“ – also: „Zeige, statt zu erzählen!“.
Im Prinzip ist diese Regel gut und richtig – schließlich sollte man als Autor den Leser tief in die Handlung hineinziehen, indem man ihn sie mit allen Sinnen miterleben lässt. Doch wie bei fast allen Regeln gibt es auch hier nicht nur die sprichwörtlichen Ausnahmen, die die Regel bestätigen, sondern auch richtige und falsche Situationen, um sie anzuwenden.
Denn bei falscher Anwendung kann auch die Show-don’t-tell-Regel (genau wie jede andere Verallgemeinerung) mehr kaputt machen, als sie nützt. Der richtige Zeitpunkt für „Show, don’t tell“ ist die Revision bzw. das Schreiben der zweiten Fassung – nicht jedoch das Schreiben der Rohfassung!
Falls Ihnen beim Schreiben der Rohfassung detaillierte Beschreibungen mit allen Sinnen bereits locker von der Hand gehen, ohne dass Sie auch nur einen weiteren Gedanken daran verschwenden müssen – nur zu! Doch in der Praxis kenne ich eher den Fall, dass das krampfhafte Festkammern an der als ehernes Gesetz empfundenen Regel „Show, don’t tell“ viele Autoren bis fast zum völligen Stillstand ausbremst und ihnen regelrecht den Spaß am Schreiben austreibt.
Sollten also auch Sie merken, dass „Show, don’t tell!“ Sie beim Schreiben ausbremst wie ein zentnerschwerer Mühlstein, den Sie an einem Strick hinter sich her schleppen müssen, sollten Sie für das Schreiben Ihrer Rohfassung einen anderen Ansatz ausprobieren: Tell, don’t show!
Meist kommt man mit dem Schreiben der Rohfassung wesentlich besser voran, wenn man sich zunächst einmal ausschließlich auf die eigentliche Handlung beschränkt und das lästige „Show, don’t tell!“ völlig ignoriert.
Die meisten Formulierungen bekommt man bei der Rohfassung (egal, wieviel Mühe man sich gibt) ohnehin nicht so gut hin, dass man sie bei der Revision später unverändert übernehmen könnte. Überarbeiten und umschreiben muss man sie ohnehin noch. Also warum sollte man dann mehr Mühe als unbedingt nötig in die Rohfassung stecken?
Schreiben Sie lieber nur die eigentlichen Geschehnisse auf und notieren Sie auf einem separaten Blatt alle Details, die Sie bei der späteren Überarbeitung noch einfließen lassen könnten, um die Szene im Sinne von „Show, don’t tell!“ mit allen Sinnen vor dem geistigen Auge des Lesers zum Leben zu erwecken.
Zu diesem Zweck können Sie mein Wahrnehmungs-Arbeitsblatt verwenden, das Sie unter http://ezine.writersworkshop.de/2015-02/files/Wahrnehmung.pdf herunterladen können. Drucken Sie sich für jede Szene ein Exemplar des Arbeitsblatts aus und notieren Sie darauf alle Details, die Ihr Perspektivcharakter in dieser Szene sieht, hört, riecht, fühlt oder schmeckt. Der untere Bereich „Sonstiges“ ist für all jene Dinge gedacht, die nicht wirklich in eine der anderen Kategorien passen – wie der berühmte „sechste Sinn“ sowie Emotionen und Gefühle.
Die eigentliche Szene können Sie dann schnell und flüssig herunterschreiben. Alle Details, die Sie bei der Überarbeitung noch in die Rohfassung einarbeiten wollen, landen als Stichworte auf dem Wahrnehmungs-Blatt, während sich der geschriebene Text auf die tatsächlichen Ereignisse beschränkt, die Sie als Autor sozusagen vor Ihrem geistigen Auge sehen.
Viele Schriftsteller finden es in dieser Phase praktisch, die Rohfassung im Präsens zu schreiben, um ein noch „direkteres“ Gefühl für die Handlung zu bekommen. Sie beschreiben quasi live die Ereignisse der Szene, während sie geschehen.
Eine solche Rohfassung könnte sich dann so lesen: „Markus nestelt mit dem Dietrich am Schloss herum, bis es klickt. Er schaut sich im Flur um. Niemand hat ihn gesehen. Er öffnet die Tür einen Spalt weit, schiebt sich mit dem Rücken voran ins Zimmer und schließt die Tür leise hinter sich. Erst dann sieht er sich um. Auf dem Bett liegt eine Leiche. Erst jetzt sieht er die Spuren eines Kampfes: umgeworfene Möbel, die Scherben einer zerbrochenen Lampe und ein blutiges Küchenmesser.“
Es ist klar, dass bei einer solchen Rohfassung die Revision sehr aufwändig ist, doch dafür kann man diese Rohfassung fast so schnell zu Papier (bzw. in den Computer) bringen, wie man die Finger über die Tasten fliegen lassen kann. In der Summe ist man mit dieser Technik interessanterweise immer noch deutlich schneller, als wenn man zu viel Zeit in eine zumindest passable Rohfassung steckt.
Denken Sie immer daran: Die Rohfassung muss nur so lesbar und zusammenhängend sein, dass sie als Grundlage für die Revision dienen kann. Wie heißt es so schön: Man kann keine leere Seite korrigieren. Und mit dieser Technik füllen sich die Seiten der Rohfassung erfrischend schnell.
Auch den ersten Revisionsdurchlauf nach dem magischen Wörtchen ENDE unter der Rohfassung machen Sie noch auf Basis dieser ultimativen Rohfassung: Die Prüfung auf eine konsistente, schlüssige Handlung.
Ein großer Vorteil ist nämlich, dass man auch nachträglich noch größere Änderungen an Szenen oder Handlungssträngen vornehmen kann, ohne dabei bereits mühsam ausformulierte Prosa verwerfen zu müssen. Wenn Sie die Rohfassung einer Szene in gerade mal 15 Minuten nach dem Motto „Tell, don’t Show“ skizziert haben, wird es Ihnen keine schlaflosen Nächte bereiten, die Szene durch eine genauso schnell heruntergeschriebene, besser in die Handlung passende neue Szene zu ersetzen.
Erst wenn Sie mit Ihrer Handlung (also dem reinen „Tell“-Anteil) wirklich zufrieden sind, beginnen Sie mit damit, die zweite Fassung Ihrer Handlung zu schreiben. Diesmal können Sie langsam und bedächtig vorgehen und aus der rudimentären Rohfassung und Ihren Notizen zu allen Sinneswahrnehmungen eine von Grund auf neu geschriebene, hochwertige „Version 2“ machen.
Probieren Sie es doch bei Ihrem nächsten Manuskript (oder auch nur bei einer einzelnen Szene) einfach selbst einmal aus. Vergleichen Sie die Ergebnisse und stoppen Sie die Zeit, die Sie insgesamt benötigen. Ich würde vermuten, dass Sie mit diesem Ansatz nicht nur schneller und wesentlich stressfreier vorankommen, sondern dass auch das fertige Resultat (also die „Version 2“) sich sogar noch besser und flüssiger liest, als wenn Sie versucht hätten, gleich alles in einen Durchgang zu packen.
PS: Da man bei der Revision ohnehin alles noch einmal umschreiben muss, kann man die Rohfassung theoretisch auch direkt mit Stift und Papier schreiben, was einen beim Schreiben völlig unabhängig vom PC, Strom oder der Akkuladung des Laptops macht – eine Mappe mit leeren Blättern und einen Stift kann man überall hin mitnehmen.
Wer diese Variante bevorzugt, kann sich mein Schreibblatt unter http://ezine.writersworkshop.de/2015-02/files/Schreibblatt.pdf herunterladen: Die linke Spalte ist dabei für die eigentliche Szene, die rechte für die Notizen zu allen sechs Sinnen.