Es gibt eine Handvoll Punkte, an denen man als Schriftsteller permanent arbeiten sollte, um stetig zu wachsen und immer besser zu werden.
Einer dieser Punkte ist der eigene Wortschatz und die Fähigkeit, sich klar und abwechslungsreich auszudrücken. Das gilt für Romanschriftsteller mindestens ebenso sehr wie für Sachbuchautoren.
Als Romanschriftsteller kann man diese Fähigkeit nicht nur beim eigentlichen Schreiben üben, sondern auch im Alltag – und das ganz ohne zusätzliche Zeit investieren zu müssen.
Das mag auf den ersten Blick unrealistisch klingen, doch die Lösung ist verblüffend einfach. So einfach, dass kaum jemand darauf kommt.
Es geht darum, wie man ungenutzte Pausen und langweilige Momente nutzt. Natürlich kann man diese Zeiten nutzen, um beispielsweise über offene Fragen rund um die eigene Romanhandlung nachzudenken oder die nächste Szene im Kopfkino ablaufen zu lassen, um diese am nächsten Morgen besser und flüssiger schreiben zu können.
All das ist gut, richtig und empfehlenswert – aber offen gestanden hat man auch dazu nicht immer Lust. Manchmal fällt einem partout nichts ein, über das man nachdenken müsste – und wenn man beispielsweise zurzeit an der Revision eines Manuskripts arbeitet, hat das Kopfkino für neue Szenen ohnehin Sendepause.
Nutzen Sie diese ansonsten ungenutzten Zeiten daher, um alles, was Sie sehen, hören, riechen, fühlen und empfinden, gedanklich zu formulieren.
Sagen wir, Sie gehen durch die Fußgängerzone Ihrer Stadt, weil Sie etwas abholen müssen. Beschreiben Sie gedanklich, was Sie sehen, hören und riechen – und zwar so, wie Sie es auf den Seiten eines Romans beschreiben würden.
Beschreiben Sie die Bewegungen der Tauben, die sich in der Nähe des Imbissstands um Brötchenkrümel und runtergefallene Pommes Frites streiten.
Beschreiben Sie die ältere Dame, die mit ihrem Mann neben Ihnen an der Fußgängerampel steht. So, wie Sie sie in einem Roman beschreiben würde, um mit wenigen, aussagekräftigen Attributen die Figur vor dem geistigen Auge Ihrer Leser zum Leben zu erwecken.
Wählen Sie drei besonders charakteristische Eigenschaften bzw. Details, anhand derer ein Fremder diese Frau unter hundert anderen Passanten eindeutig erkennen würde.
Bleiben Sie nicht allgemein, sondern werden Sie spezifisch. Wenn sie eine auffällige Bluse anhat – wie würden Sie das Muster und/oder die Farbe ihrer Bluse kurz und knapp beschreiben?
Diese Übung mag auf den ersten Blick banal erscheinen, doch das ist sie keinesfalls. Wenn Sie es in der Praxis ausprobieren, werden Sie sehr schnell merken, wie oft Sie an Ihre Grenzen stoßen und länger über eine passende Formulierung nachgrübeln müssen, als Sie dafür Zeit haben. Die Fußgängerampel wird grün, alle strömen hastig über die Straße – und Sie überlegen immer noch, wie man diesen Farbton nennt oder wie man jene Frisur beschreiben könnte.
Das ist eine frustrierende Sache – aber nur zu Beginn. Es ist wie bei allem, mit dem man neu beginnt: anfangs ist man derartig schlecht, dass es einen selbst ärgert und einem absolut keinen Spaß macht. Doch das sollte einen keinesfalls dazu verleiten, vorschnell aufzugeben.
Das bildliche Beschreiben einer Szene mit allen Sinnen ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, die man als Schriftsteller lernen kann. Nicht umsonst ist „Show, don’t tell!“ (Also „Zeige, statt zu erzählen“) die wohl bekannteste Schreibregel.
Je öfter und intensiver Sie diese Fähigkeit im Alltag trainieren, desto schneller werden Sie im Laufe der Zeit beim eigentlichen Schreiben.
Dafür gibt es gleich zwei Gründe.
Zunächst mal entwickeln Sie durch diese neue Angewohnheit rasch einen Blick für Details, die Ihnen ansonsten entgangen wären. Sie werden zum besseren und aufmerksameren Beobachter, der Details, Geräusche und Gerüche wie ein Schwamm in sich aufsaugt. Sie leben intensiver und bewusster als bisher. Allein das ist schon ein unschätzbarer Gewinn.
Der zweite, ebenso wichtige Grund ist, dass Sie Ihren aktiven Wortschatz ausbauen und trainieren. Sie lernen, speziellere und aussagekräftigere Wörter statt allgemeiner Oberbegriffe zu verwenden und so lebendiger zu schreiben.
Und Sie merken dabei sehr schnell, wo Sie noch Schwächen und Defizite haben. Es ist ein verbreiteter Scherz, dass Männer nur wenige Farben unterscheiden: etwas ist grün, blau, rot oder gelb – vielleicht noch dunkelgrün, metallicrot oder hellblau.
Doch die Farbvielfalt ist viel größer – und hier merken wir den Unterschied zwischen passivem und aktivem Wortschatz besonders stark. Wir können uns recht genau vorstellen, was jemand mit Farbnuancen wie taubenblau, magenta oder cyan meint – aber wir verwenden diese Begriffe selbst nicht oder zumindest so selten, dass sie uns nicht automatisch in den Sinn kommen.
Eine gute Übung hierfür ist, sich einen RAL-Farbenfächer zu besorgen und gezielt zu üben, die Farben auswendig zu lernen und korrekt zu benennen. Wichtig ist, dass dieser nicht nur die RAL-Nummern, sondern auch die Namen der Farbtöne enthält – schließlich wollen Sie in einem Roman nicht schreiben, dass der Himmel kurz vor dem Einbruch des Unwetters in RAL 1016 leuchtete, sondern eher, dass er schwefelgelb war. ;-)
Auch eine Online-Tabelle wie http://www.ral-farben.de/inhalt/anwendung-hilfe/alle-ral-farbnamen/uebersicht-ral-classic-farben.html kann Ihnen helfen, die wichtigsten Farben auswendig zu lernen.
Natürlich eignen sich nicht alle Farbbezeichnungen dafür, beim kreativen Schreiben verwendet zu werden. Kaum jemand außer einem Grafiker oder Farbspezialisten wird beispielsweise etwas als „hellrotorange“, „perlorange“ oder „verkehrsblau“ bezeichnen, doch Farbtöne wie „saphirblau“, „karminrot“ oder „kastanienbraun“ kann man gut verwenden.
Ganz abgesehen davon können Sie gerade bei Farben äußerst kreativ werden und Farben eigene, sprechende Namen verpassen. Auch wenn Sie diese Farbbezeichnungen wohl nie in einer offiziellen Farbtabelle finden werden, kann sich doch fast jeder etwas unter Farbbezeichnungen wie „eitergelb“, „madenweiß“ oder „nazibraun“ vorstellen. ;-)
Ein Farbfächer, den Sie in der Jackentasche dabei haben können, hat noch einen weiteren Vorteil: Sie können Dinge, die Sie unterwegs sehen, mit dem RAL-Farbfächer identifizieren und so trainieren, wie man eine bestimmte Farbe nennt. Und wenn Sie eine bessere, aber aussagekräftigere Bezeichnung für eine bestimmte Farbe gefunden haben, können Sie diese auf der Rückseite der jeweiligen Farbkarte notieren, bis der Farbfächer so nach und nach zu Ihrem persönlichen Farb-Thesaurus wird.
Egal, ob Sie den Vorschlag mit dem Farbfächer verwenden oder sich darauf beschränken, einfach nur das Formulieren Ihrer Alltags-Beobachtungen als ‚gedankliche Erzählung‘ zu üben – lassen Sie sich auf eine 14-Tage-Herausforderung ein. Wenn Sie dieses ‚Spielchen‘ zwei Wochen lang durchhalten und täglich zumindest ein paar Minuten lang üben, werden Sie gegen Ende der zwei Wochen bereits feststellen, dass es Ihnen immer leichter fällt, die passenden Formulierungen und Beschreibungen aus dem Ärmel zu schütteln.
Auch beim Schreiben der Rohfassung Ihrer nächsten Geschichten werden Sie merken, dass Sie nicht nur schneller werden, sondern auch, dass die Qualität Ihrer Rohfassung noch besser als bisher wird. Da Sie nun die Szenen, die Sie vorher in Ihrem Kopfkino durchgespielt haben, mit noch mehr lebendigen Details zu Papier bringen können, reduziert sich zugleich der Aufwand für die spätere Überarbeitung der Texte. Und da diese Übung Sie wie gesagt unterm Strich keine zusätzliche Zeit kostet – was haben Sie zu verlieren? ;-)