Wenn ich Rezensionen von Fantasy-, Science-Fiction- oder Horror-Romanen lese, stocke ich meist unwillkürlich, wenn ich dort den Vorwurf lese, das Buch sei „unrealistisch“. Kann man denn beispielsweise einem Fantasy-Roman, in dem es Einhörner, Drachen und Elfen gibt, überhaupt vorwerfen, er sei „unrealistisch“?
Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen sollte. Um ihr gerecht zu werden, müssen wir ein ganzes Stück weit ausholen.
Der Autor eines Fantasy-Romans könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass dadurch, dass er über Einhörner, Drachen und sprechende Tiere schreibt, jegliche Diskussionen über „Realismus“ von vorneherein absurd seien.
Das erinnert mich an eine Anekdote über die beiden Schriftsteller Johnny B. Truant und Sean Platt, die mit dem Gedanken spielten, einen Western zu schreiben, aber schon zu Beginn der Planung über kleine Details wie die Frage stolperten, welche Farbe der Pulverdampf eines abgefeuerten Revolvers hat. Daraufhin entschlossen sie sich kurzerhand, in ihrer Geschichte die Pferde durch Einhörner zu ersetzen – denn wenn schon ein Einhorn in der Handlung vorkommt, kann der Pulverdampf auch ruhig rosa sein. Diese Entscheidung war die Geburtsstunde des „Unicorn Western“, von dem die beiden Autoren mittlerweile neun Bände veröffentlicht haben.
Dieser Auffassung möchte ich jedoch so nicht anschließen. Auch Romane der fantastischen Literatur, egal ob wir nun von Fantasy, Science-Fiction oder Horror reden, sind niemals zu 100 Prozent spekulativ. Jede Romanwelt ist zu einem nicht unerheblichen Prozentsatz identisch mit unserer gewohnten Welt. Das hat nichts mit einem Mangel an Fantasie der entsprechenden Schriftsteller zu tun, sondern ist die Grundlage dafür, dass wir diese Romane überhaupt verstehen und genießen können. Wie groß der prozentuale „Phantasie-Anteil“ an der Romanwelt ist, hängt stark vom Genre und den jeweiligen Autor ab.
So gilt beispielsweise die Fantasy-Welt von Westeros („Game of Thrones“) aus der Feder von George R.R. Martin unter Fantasy-Lesern trotz Drachen, Weißen Wanderern und Magie als eher realistisch. Denn statt edler Paladine, weiser Elfen, untersetzter Zwerge und vierschrötiger Orks kämpfen hier (von wenigen Ausnahmen abgesehen) ausschließlich Menschen mit blutiger Waffengewalt, politischen Intrigen, Verrat und Meuchelmord um die Macht in den sieben Königslanden.
Drachen und Magie sind in Westeros lediglich ein Mittel zum Zweck, ähnlich wie Panzer, Drohnen und biologische Kampfstoffe in unserer „realen“ Welt. Die Geschichten der Menschen, die George R.R. Martin erzählt, drehen sich um Liebe, Hass, Machthunger, religiösen Eifer, Ehrgeiz und Rachsucht – alles Dinge, die uns nur allzu gut bekannt sind.
Es ist der „reale“ Anteil einer Fantasy- oder Science-Fiction-Welt, der sich in erster Linie gegen den Vorwurf „unrealistisch“ verteidigen können muss.
- Wenn sich in einem Fantasy-Roman die menschliche Heldin einen stundenlangen Kampf mit einem schwer gepanzerten Ritter liefert und dabei ständig ihr Zweihänder-Schwert schwingt, ist das „unrealistisch“ – denn selbst der muskulösesten und durchtrainiertesten Heldin würde bald die Puste ausgehen, wenn sie die ganze Zeit ein Schwert gegen ihren Gegner schwingen müsste, das zwischen 4 und 6 Kilo wiegt.
- Wenn der Held mit seinem Pferd innerhalb eines Tages mehr als 300 Kilometer zurücklegt, ist das „unrealistisch“, da selbst gut trainierte Pferde keine 200 Kilometer am Tag schaffen. Und wenn man dann noch das eventuell teilweise unwegsame Gelände einkalkuliert, sollte man diesen Wert noch einmal deutlich nach unten korrigieren.
Was ich mit diesen Beispielen sagen will, ist, dass das Schreiben eines „Fantasy-Romans“ niemals als Ausrede für schlechte oder gar unterlassene Recherche dienen darf. Alles, was in einem Fantasy- oder Science-Fiction-Roman nicht explizit als abweichend von unserer Realität geschildert wird, sollte auch innerhalb des Romans „realistisch“ geschildert werden.
Doch wie sieht die Sache bei dem „fantastischen“ Anteil von Fantasy-, Science-Fiction- und Horror-Romanen aus? Hier kann man natürlich nicht von „realistisch“ oder „unrealistisch“ sprechen, aber definitiv von „plausibel“ und „unplausibel“.
Hier ist das Zauberwort „Konsistenz“. Wenn sich ein Leser bewusst auf einen Fantasy- oder Horror-Roman einlässt, ist er üblicherweise durchaus bereit, die abweichenden Prämissen dieser Romanwelt für die nächsten paar hundert Seiten als „wahr“ anzunehmen. Ich kann „The Walking Dead“ oder „Das Lied von Eis und Feuer“ genießen, obwohl ich nicht an die Existenz von Zombies oder von Drachen glaube – aber nur, solange die Handlung ihrer eigenen inneren Logik treu bleibt.
Jegliche Abweichungen von unserer gewohnten Realität in einem Fantasy-, Science-Fiction- oder Horror-Roman müssen explizit eingeführt und nach Möglichkeit auch halbwegs logisch begründet werden, damit auch der kritische Leser sie als „gesetzt“ akzeptieren kann.
So gibt es beispielsweise etliche Webseiten, die sich damit beschäftigen, wie Drachen tatsächlich „funktionieren“ könnten. Wie könnte ein Drache trotz seiner Körpergröße abheben und fliegen – und wie könnte er Feuer spucken? Dies alles sind Dinge, über die man sich als Fantasy-Autor bereits beim Entwurf seiner Romanwelt Gedanken machen sollte.
Denken Sie beispielsweise an die unterschiedlichen Fantasy-Rassen, die seit Tolkiens „Herr der Ringe“ hunderte von Fantasy-Romanen bevölkern: Elfen, Zwerge, Orks und wie sie nicht alle heißen. Gerade durch Fantasy-Rollenspiele sind Mischwesen wie Halb-Orks oder Halb-Elfen aufgekommen, doch was wären die Konsequenzen solcher „Mischungen“?
George R.R. Martin hat sich dadurch, dass alle Bewohner der sieben Königslande mehr oder weniger menschlich sind, dieser Problematik entzogen. Doch wie handhabt man das als Autor, in dessen Romanwelt es beispielsweise Menschen, Elfen, Zwerge und Orks gibt? Sind diese soweit genetisch kompatibel, dass Mischlinge zwischen Mensch und Elf oder Zwerg und Ork möglich wären – also ähnlich wie bei Hunden, bei denen durch größtenteils identische DNA selbst ungewöhnliche Kreuzungen wie zwischen Pekinese und Dänischer Dogge denkbar wären?
Wenn ja, ergibt sich daraus eine Problematik, derer sich die meisten Fantasy-Autoren gar nicht bewusst sind. Denn wenn diese Nachkommen nicht wie bei der Kreuzung zwischen Esel und Pferd (also dem Maultier bzw. Maulesel) automatisch steril sind und sich ihrerseits nicht fortpflanzen könnten, würde diese genetische Kompatibilität innerhalb einiger Jahrhunderte für eine immer stärkere Vermischung der Rassen sorgen, bis die Unterschiede zwischen den Rassen spätestens nach ein paar Jahrtausenden immer geringer werden. In einer solchen Welt wäre also ein Held, unter dessen Vorfahren sich Angehörige aller möglichen Rassen finden, wesentlich wahrscheinlicher als ein „reiner Elf“ oder ein „reiner Zwerg“ – genau wie viele von uns in ihrem Stammbaum Angehörige der unterschiedlichsten Nationalitäten finden, wenn sie ein paar Generationen zurück gehen.
Wenn man also explizit unterschiedliche Rassen in seinem Fantasy-Roman haben möchte, sollte man diese genetisch inkompatibel machen – was natürlich eine eventuelle Liebesgeschichte zwischen Angehörigen unterschiedlicher Rassen (speziell was die gemeinsame Familienplanung angeht) deutlich erschwert.
Auch bei magischen Systemen gilt, dass man sich als Autor hier über die zugrundeliegenden Regeln und Gesetzmäßigkeiten gründliche Gedanken machen sollte. Damit Magie „plausibel“ wirkt, muss man als Leser ihre Gesetzmäßigkeiten entweder verstehen oder zumindest nicht widerlegen können.
„Verstehen“ ist dann der Fall, wenn man als Leser (z.B. gemeinsam mit dem Protagonisten, der im Laufe der Handlung erst die Anwendung von Magie erlernt) erfährt, wie Magie funktioniert, was möglich ist und was nicht und welchen Restriktionen man als Magier unterworfen ist – ähnlich wie bei einem Rollenspiel, bei dem wir beispielsweise wissen, dass man für einen bestimmten Zauberspruch soundsoviel Mana und ganz bestimmte Zutaten benötigt und dass dieser Spruch nur bei Tageslicht wirkt.
Wenn Magie nicht erklärt wird, sondern nur als praktisches Handlungselement eingestreut wird (wie beispielsweise bei den Harry-Potter-Romanen), ist sie für den Leser nicht zu begreifen. Doch wenn der Leser an einem bestimmten Punkt der Handlung sagt: „Warum verwendet er nicht einfach denselben Zauberspruch wie in Kapitel 12, um das Problem zu lösen?“, empfindet er das magische System als „unplausibel“ – denn entweder ist der Protagonist zu dumm, auf eine so einfache Lösung zu kommen, oder der Autor hält sich nicht an seine selbst festgelegten Regeln, weil derselbe Zauberspruch in einer ähnlichen Situation plötzlich nicht mehr helfen soll.
Auch aus diesem Grund sollte man sich als Fantasy- oder Science-Fiction-Autor bei jeder neuen Idee oder Erfindung genau überlegen, was die „realistischen“ Konsequenzen wären, wenn es dies wirklich gäbe. Wenn Magier mit einem Fingerschnippen und ohne zu ermüden von einem Ende der Welt ans andere teleportieren könnten – würde dann nicht irgendein Magier den schnellsten Postdienst aller Zeiten aufmachen, anstatt die Post weiterhin mit langsamen Pferdekutschen transportieren zu lassen? Wenn magische Fackeln an den Wänden der Dungeons ewig brennen – warum werden dann überhaupt noch Kerzen oder Öllampen produziert?
Nehmen Sie sich daher gerade bei der Planung „fantastischer“ Romane, egal ob diese nun in magischen Parallelwelten oder in einer weit entfernten Zukunft auf fremden Planeten spielen, ausreichend Zeit, um eine sowohl „realistische“ als auch „plausible“ Romanwelt zu erschaffen. Ihre Leser werden es Ihnen danken.