Charakterklassen beim Schreiben von Romanen

Wenn Sie einen Roman schreiben bzw. planen, sollten Sie keinesfalls alle Charaktere, die Ihre Romanwelt bevölkern, in einen Topf werfen.

Charaktere sind nicht gleich Charaktere. Sie haben unterschiedliche Funktionen und ihre Bedeutung für die Handlung des Romans wiegt, um sie mal mit den Bleigewichten auf einer klasschen Apothekerwaage zu vergleichen, unterschiedlich schwer. Damit also Ihre Handlung ‚ausgewogen‘ und ‚im Gleichgewicht‘ ist, müssen Sie (unter anderem) auch das handlungsmäßige Gewicht Ihrer Romancharaktere gut ausbalancieren.

Der wichtigste Schritt hierfür ist die Aufteilung der Romancharaktere in fünf unterschiedliche Klassen:

  • Hauptfiguren
  • Zweite Garde
  • Nebenfiguren
  • Statisten
  • Faktoren.

Schauen wir uns diese Charakterklassen (um mal einen Begriff aus der Welt der Rollenspiele auszuborgen), einmal näher an:

Hauptfiguren ist leicht definiert: Die Klasse der Hauptfiguren besteht ausschließlich aus den Protagonisten und Antagonisten Ihres Romans – oft stark vereinfachend auch als ‚Helden‘ und ‚Schurken‘ bezeichnet.

Doch nicht alle Helden oder Schurken Ihres Romans sind gleichzeitig auch Hauptfiguren. Der beste Freund Ihres Helden, der ihn tatkräftig unterstützt, ist kein Protagonist und damit keine Hauptfigur – selbst wenn Sie ihm innerhalb des Roman einen eigenen Handlungsstrang spendieren. Auch der ebenso skrupellose wie gefährliche Handlanger Ihres Antagonisten – egal, wie charismatisch und bedrohlich diese Figur ist und in wie vielen Szenen der Handlung sie auftaucht – ist kein Antagonist und somit auch keine Hauptfigur.

Hauptfiguren sind ausschließlich die Personen, die aus eigenem Antrieb und aus eigenen Motiven im zentralen Konflikt gegeneinander antreten. Bei einem Boxkampf wären sie die beiden Boxer, die sich in den unterschiedlichen Ecken des Rings gegenüber stehen.

Trainer und Coaches aus unserem Vergleich mit dem Boxkampf wären die „Zweite Garde„. In dieser Charakterklasse finden sich alle wichtigen Charaktere, die (meist auf Seiten einer der beiden Hauptfiguren) in den zentralen Konflikt eingreifen.

Die Figuren der Zweiten Garde treten meist nicht aus eigenem Antrieb in den Konflikt ein, sondern in erster Linie, weil sie auf der Seite eines der Kontrahenten stehen. Gäbe es keine Verbindung zwischen ihnen und einer der Hauptfiguren, hätten Sie für gewöhnlich keine hinreichende Motivation, um aus eigenem Antrieb in den zentralen Konflikt des Romans einzugreifen und dabei ggf. auch große persönliche Risiken einzugehen.

Typische Figuren der ‚Zweiten Garde‚ sind der beste Freund des Helden (auch als Sidekick bekannt), der Mentor des Helden oder die rechte Hand des Antagonisten, die für ihn an vorderster Front kämpft, während er selbst sich eher im Hintergrund hält.

Die Frage, ob es sich bei einer bestimmten Person um eine Hauptfigur handelt oder ob sie doch eher zur Zweiten Garde gehört, ist nicht immer ganz einfach zu entscheiden. Gerade bei umfangreichen, komplexen Romanen oder gar Trilogien gibt es oft mehrere Protagonisten und mehrere Antagonisten, deren Ziele und individuelle Handlungsstränge miteinander verflochten werden.

Etwas vereinfacht kann man sagen, dass eine Figur zur Zweiten Garde statt zu den Hauptfiguren gehört, wenn man sie gegen eine ‚gleichwertige‘ Figur austauschen könnte, ohne die Handlung dadurch zu zerstören.

Es ist wie beim Schach: Während die beiden Könige die Protagonisten sind, gehören die Figuren wie Dame, Turm, Läufer oder Springer zur zweiten Garde. Sie sind unterschiedlich stark und haben unterschiedliche Fähigkeiten – aber egal wie wichtig sie für die Strategie des Spielers sind: selbst nach ihrem Tod geht das Spiel immer noch weiter.

Nehmen wir beispielsweise die Figur des Han Solo im klassischen ersten ‚Star Wars‘-Film. Während Solo in den späteren Filmen zu einem weiteren Protagonisten aufstieg, gehörte er im ersten Film nur zur ‚Zweiten Garde‚. Hätte George Lucas sich damals dafür entschieden, Luke und Obi Wan an Bord des Schiffs eines abtrünnigen imperialen Offiziers oder eines Rebellen-Kapitäns aus Mos Eisley herauszubringen, und diesen anstelle von Han Solo in die entscheidende Schlacht um den Todesstern eingreifen zu lassen, hätte der Rest der Handlung genauso stattfinden können. Auch wenn das natürlich für alle Star-Wars-Fans ein herber Verlust gewesen wäre. ;-)

Die Figur des Luke Skywalker wäre hingegen nicht so leicht zu ersetzen gewesen, da seine Geschichte (Sohn und ‚helles Spiegelbild‘ von Darth Vader) für den zentralen Konflikt zwischen Imperium und Rebellen von entscheidender Bedeutung ist. Das macht Luke zu einer echten Hauptfigur.

Auch Figuren der Zweiten Garde erhalten in vielen Romanen ihren eigenen Handlungsstrang, der ihre Entwicklung im Laufe der Handlung vorantreibt und illustriert, doch im Gegensatz zu den Handlungssträngen der Hauptfiguren ist ein solcher Handlungsstrang meist nicht untrennbar mit dem zentralen Konflikt des gesamten Romans verbunden.

Auch Hauptfiguren haben oft noch einen Nebenhandlungstrang abseits des zentralen Konflikts, der zu ihrem Charakterwachstum und ihrer Entwicklung hin zu der Person beiträgt, die am Ende des Romans den Sieg davontragen kann.

Doch bei Figuren der Zweiten Garde ist ein solcher Handlungsstrang der einzige, bei dem sie selbst im Mittelpunkt stehen. Dies ist einer der wichtigsten Unterscheidungspunkte zwischen Hauptfiguren und Zweiter Garde.

Die Unterscheidung wirkt sich auch darauf aus, wie viel Szenen die einzelnen Figuren erhalten, die aus ihrer Perspektive geschrieben werden. Bei den meisten Romanen beschränken sich die Autoren auf die Hauptfiguren und die Zweite Garde als Perspektivcharaktere und wechseln nur, wenn es im Interesse der Handlung unbedingt ratsam ist, auf eine Nebenfigur oder gar einen Statisten, um eine bestimmte Szene aus deren Perspektive zu schildern.

Ein Protagonist sollte deutlich mehr (pi mal Daumen doppelt so viele) Szenen wie eine Figur der Zweiten Garde erhalten. Allein dies zeigt dem Leser schon, wer in dieser Geschichte die Hauptfigur ist, auf deren Schicksal sich der Leser konzentrieren sollte.

An diesen teils fließenden Übergängen sehen Sie schon, dass es in manchen Romanhandlungen nicht einfach ist, eine Figur den Hauptfiguren oder der Zweiten Garde zuzuordnen. Oft wäre beides möglich. Aber Sie sehen auch, dass es im Interesse der Handlung wichtig ist, diese Entscheidung möglichst frühzeitig zu treffen und konsequent durchzuziehen. Es wäre doch fatal, wenn ein guter Teil Ihrer Leser gedanklich mehr einer charismatischen Figur aus der Zweiten Garde als Ihrem eigentlichen Protagonisten folgt – nur um dann auf halber Strecke fassungslos das Buch zuzuklappen, wenn dieser vermeintliche Protagonist auf tragische Weise ums Leben kommt.

Aber keine Sorge: ab jetzt werden die Unterscheidungen zwischen den restlichen Charakterklassen deutlich einfacher. ;-)

Nebenfiguren sind all jene Figuren, die zwar einen Einfluss auf die Handlung haben in mehreren Szenen auftauchen, aber keinen eigenen Handlungsstrang spendiert bekommen, der aus ihrer Perspektive erzählt wird.

Statisten tauchen im Gegensatz zu Nebenfiguren oft nur in einer Szene auf. Meist haben sie keine Namen oder bestenfalls nur einen Vor- oder Nachnamen. Sie werden nicht im Detail beschrieben und ihre Rolle beschränkt sich meist auf eine bestimmte Tätigkeit oder Eigenschaft, die gerade für eine konkrete Szene benötigt wird.

Statisten sind mehr Kulisse und Setting als echte Charaktere. Sie sind Personen wie der Taxifahrer, der Pizzabote, der Obdachlose an der Straßenecke oder die neugierige Nachbarin, die immer verstohlen aus der angelehnten Wohnungstür linst, wenn Ihre Protagonistin wieder mal spät nach Hause kommt. Der Leser erfährt üblicherweise nichts über ihre Wünsche, Ziele und Sorgen – von eine genrespezifischen Ausnahme abgesehen.

Diese Ausnahme ist der sogenannte „Wegwerf-Perspektivcharakter“, der gerne von Horror- und Triller-Autoren verwendet wird. Hierbei wird ein Statist, der für die weitere Handlung absolut keine Bedeutung hat, mit einer oft emotionalen Szene aus seiner Perspektive vor dem geistigen Auge des Lesers zum Leben erweckt. Doch kaum hat der Leser Interesse an dieser Figur gewonnen und fragt sich, wie es mit ihr weitergehen mag, fällt diese Figur dem Serienkiller, einem dämonischen Monster oder einer sonstigen Katastrophe zum Opfer.

Bei diesen „Wegwerf-Perspekticharakteren“ handelt es sich nur um Statisten, obwohl sie im Detail vorgestellt werden und sogar eine eigene Szene aus ihrer Perspektive spendiert bekommen. Auch sie dienen nur einem einzigen Zweck – und zwar dem, einer Katastrophe ein Gesicht zu geben. Es ist dasselbe wie in den Nachrichten: Wenn wir hören, dass hundert Menschen bei einer Katastrophe umgekommen sind, ist das eine reine, sterile Zahl. Eine solche Erwähnung in den Nachrichten kann uns emotional nicht so sehr mitnehmen wie wenn wir eines dieser hundert Opfer persönlich gekannt hätten. Das ist auch der Grund, warum Reporter oft ein Einzelschicksal herausgreifen, um der Öffentlichkeit die Auswirkungen einer großen Katastrophe näher zu bringen. Nichts anderes ist auch die Wegwerf-Perspektive – also lediglich ein ‚besserer Statist‘.

Die letzte Charakterklasse sind die sogenannten Faktoren. Faktoren sind Charaktere, die oft persönlich überhaupt nicht auf den Seiten des Romans auftauchen, sondern lediglich von anderen Charakteren erwähnt werden. Dennoch sind sie stets im Hintergrund präsent und haben einen maßgeblichen Einfluss auf die Romanwelt und damit auch auf die Handlung des Romans.

Faktoren haben in den meisten Fällen Macht und Einfluss. Sie sind die Könige und Kaiser, die Politiker, Generäle und Wirtschaftsbosse. Sie erlassen die Gesetzte, erklären Kriege und führen Friedensverhandlungen und ziehen ganz allgemein gesprochen im Hintergrund die Fäden.

Faktoren können durchaus in einzelnen Szene persönlich auftreten, müssen sie aber nicht. Wenn es beispielsweise in Ihrem Fantasy-Roman um ein Land geht, das in einem instabilen Waffenstillstand mit der verfeindeten Nachbarnation lebt und aufgrund einer monatelangen Hungersnot an der Schwelle eines Bürgerkriegs steht, ist der König dieses Lands ganz klar ein Faktor, da seine Entscheidungen maßgeblichen Einfluss auf dieses Land und damit die Handlung des Romans haben.

Dennoch kann es (je nachdem, welchen Maßstab und welche Perspektive Sie für Ihre Handlung wählen) durchaus sein, dass keiner der Perspektivcharaktere im Laufe der Handlung dem König persönlich begegnet. Doch weil sich die Menschen über ihn, seine Gesetze, Entscheidungen und Anordnungen unterhalten, ist er dennoch auch für den Leser stets präsent.

Alle Charaktere in Ihrem Roman lassen sich in also eine dieser fünf Klassen einordnen:

  • Hauptcharaktere
  • Zweite Garde
  • Nebenfiguren
  • Statisten
  • Faktoren

Der Punkt ist, dass Sie im Interesse Ihres Romans und Ihrer Leser diese Entscheidung so früh wie möglich treffen. Wenn Sie eine neue Figur einführen oder auch nur am Rande erwähnen, sollten Sie direkt ihre Rolle und deren Auswirkungen auf die Handlung durchdenken, um ihr dann einen der oben genannten fünf ‚Stempel‘ zu verpassen.

Allein diese Entscheidung (und natürlich, dass Sie sich beim Schreiben auch an diese Entscheidung halten!) führt bereits dazu, dass Ihre Romanhandlung ausgewogener strukturiert ist und dem Leser dadurch logischer und besser verständlich erscheint.


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