Wie lange dauert es, einen Roman zu schreiben?

Eine der in Schriftstellerforen (abgesehen von der ewigen Diskussion zwischen ‚Plottern‘ und ‚Pantsern‘) am häufigsten diskutierten Fragen ist, wie lange man eigentlich braucht, um einen Roman zu schreiben.

Meist werden diese Fragen von Romanautoren mit relativ wenig praktischer Erfahrung aufgeworfen, die sich entweder einen Überblick darüber verschaffen wollen, wieviel Zeit sie für ihren ersten Roman einplanen müssen oder aber (für die ehrgeizigeren unter ihnen) wie viele Romane sie innerhalb eines Jahres schreiben könnten.

Manchmal kommen solche Fragen auch von Autoren, die verunsichert sind, weil sie nach eigenem Empfinden schon viel zu lange an ihrem Roman arbeiten, ohne dass ein Ende in Sicht ist. Und die Ergebnisse solcher Diskussionen sind oft sehr interessant…

Früher war es üblich, dass Verlage nicht mehr als einen Roman eines Autors pro Jahr veröffentlichten. Wer als Verlagsautor mit der Präzision eines gut geölten Schweizer Uhrwerks jedes Jahr einen neuen Roman produzieren konnte, war damit also schon auf der sicheren Seite. Wer jedoch als Autor produktiver war und womöglich mehrere Bücher pro Jahr fertigstellen konnte, musste (sofern es sein Vertrag zuließ) parallel unter unterschiedlichen Pseudonymen schreiben und veröffentlichen.

Heute, im Zeitalter der Indie- und Hybrid-Autoren, sind diese Grenzen längst gefallen. Als Selbstverleger kann man so viele Bücher pro Jahr schreiben und veröffentlichen, wie man will. Die Leser dieser Autoren freuen sich, denn selbst der produktivste Autor kann niemals so schnell neue Romane schreiben und veröffentlichen, wie seine Leser diese verschlingen können.

Und da durch die entfallene ‚Torwächter-Funktion‘ der Verlage von Jahr zu Jahr immer mehr Romane (überwiegend nur noch im eBook-Format) veröffentlicht werden, heißt es mittlerweile oft, dass ein Roman pro Jahr längst nicht mehr ausreicht, um aus der Flut der Neuerscheinungen hervorzustechen und bei der Leserschaft in Erinnerung zu bleiben.

Viele Bestseller-Autoren veröffentlichen mittlerweile ein halbes Dutzend oder mehr Bücher pro Jahr. Werfen Sie nur mal einen Blick auf regelmäßigen Veröffentlichungen von Autoren wie Nora Roberts oder James Patterson. Und manche Indie-Autoren schaffen es sogar, alle ein bis zwei Monate einen (wenngleich meist recht kurzen) Roman auf den Markt zu werfen.

Kein Wunder, dass die Frage nach dem zeitlichen Aufwand für das Schreiben eines Romans in Foren so häufig diskutiert wird.

Im Kielwasser der neuen Devise, möglichst viele Bücher in möglichst kurzer Zeit zu veröffentlichen, kommen natürlich auch (speziell im englischsprachigen Raum) jede Menge Schreibratgeber von teils zweifelhafter Qualität auf den Markt, die einem beibringen wollen, wie man einen Roman in 90 Tagen, 60 Tagen, 30 Tagen, einer Woche oder sogar nur fünf Tagen schreiben kann.

All diese Buchtitel haben zwei Dinge gemeinsam: Erstens sind sie reißerisch und verlockend (so wecken sie das Interesse potentieller Leser) und zweitens haben sie nicht die geringste Aussagekraft.

Wenn Ihnen jemand glaubwürdig versichert, dass er seinen 300seitigen Roman innerhalb von gerade mal sechs Wochen geschrieben, überarbeitet und veröffentlicht bzw. an seinen Verlag geschickt hat, wissen Sie immer noch nicht, wie lange er an diesem Roman gesessen hat.

Erstens wissen Sie nicht, wieviel Vorarbeit schon in diesem Roman steckte, bevor der Autor den Startschuss gegeben und mit dem eigentlichen Schreiben begonnen hat. Manche Romanideen reifen jahrelang in den Köpfen ihrer Autoren (die teils während dieser Zeit auch noch einiges dazu recherchieren oder sich zumindest ausführliche Notizen machen), bevor der Autor das Gefühl hat, dass der Roman bereit ist, geschrieben zu werden. Die wenigsten Autoren starten die Stoppuhr in dem Moment, in dem sie die erste vage Idee haben oder gar erst mit der Suche nach einer geeigneten Romanidee beginnen.

Ideen, und besonders Ideen für so komplexe Projekte wie einen ganzen Roman, brauchen Zeit, um zu reifen und sich zu entwickeln. Natürlich gibt es auch Verfahren, mit denen man eine Romanhandlung innerhalb kürzerer Zeit durch intensive Planung und Recherche aus dem Boden stampfen kann, aber ob der Autor wirklich ‚von Null aus‘ begonnen hat, wissen wir nicht.

Sagen wir dennoch, dass besagter Autor lächelnd verkündet, dass er am ersten Tag der sechs Wochen nicht mehr als die grobe Idee hatte, einen Thriller über ein Attentat auf den japanischen Premier-Minister zu schreiben. Das erhöht die Aussagekraft von „gerade mal sechs Wochen“ nur unwesentlich. Schließlich wissen Sie nicht, wie viele Stunden der Autor innerhalb dieser vier Wochen für das Planen, Schreiben und Überarbeiten seines Romans aufgewendet hat.

Sechs Wochen sind 1008 Stunden. Wenn wir pro Tag noch 9-10 Stunden für Schlafen, Essen, Körperpflege und rudimentäre soziale Kontakte abziehen, bleiben innerhalb der sechs Wochen noch runde 600 Stunden übrig, die der Autor theoretisch in das Schreiben seines Romans gesteckt haben könnte.

Das ist schon eine ganz andere Zahl, als wenn wir davon ausgehen müssten, dass der Autor dasselbe Ergebnis mit 3 Stunden Arbeit pro Werktag und 5 Stunden an den Wochenenden geschafft hat (was in der Summe gerade mal 150 Stunden ergäbe).

Wenn überhaupt, ist also lediglich Angaben dazu interessant, wie viele Stunden man für das Schreiben eines Romans einplanen sollte. Wenn wir hierfür einen soliden Pi-mal-Daumen-Wert hätten, könnten wir anhand unseres eigenen wöchentlichen Schreibzeit-Budgets kalkulieren, innerhalb welcher Zeitspanne wir theoretisch einen kompletten Roman fertigstellen könnten.

Viele übertrieben enthusiastische Neu-Autoren ermitteln mit Online-Geschwindigkeitstests ihre Tippgeschwindigkeit in Wörtern pro Minute und kalkulieren dann kühn, dass sie mit einer Tippgeschwindigkeit von 50 Wörtern pro Minute die Rohfassung eines Romans von 90.000 Wörtern (also runden 360 Normseiten) innerhalb von runden 30 Stunden in den Computer hämmern können.

Wenn sie also eine Stunde pro Tag zum Schreiben erübrigen können, könnten sie nach dieser Rechnung jeden Monat einen kompletten Roman schreiben. Zieh dich warm an, James Patterson – hier naht jemand auf der Überholspur! Aber natürlich ist es in der Praxis nicht so einfach.

Schnell schreiben, äh, tippen zu können, ist natürlich für einen produktiven Schriftsteller eine feine Sache. Je geringer die Verzögerung durch die über die Tastatur fliegenden Finger ist, desto reibungsloser können wir unsere Gedanken zu Papier bzw. in den Computer bringen. Doch zum Schreiben von Romanen gehört immer noch das Denken.

Jeden Satz, jede Dialogzeile und jede Formulierung, die wir in den Computer hämmern, müssen wir uns gedanklich erst zurechtlegen. Natürlich werden wir auch dabei im Laufe der Jahre immer schneller – Übung macht auch hier den Meister. Aber dennoch kann auch der routinierteste Autor seine Manuskripte nicht einmal mit annähernd solchen Geschwindigkeiten wie hier kalkuliert zu Papier bringen.

Wenn man sich die Frage „Wie lange braucht man, um einen Roman zu schreiben?“ genauer betrachtet, findet man verschiedene Faktoren, die einen maßgeblichen Einfluss auf die ‚richtige‘ Antwort haben.

  • Der Umfang: Nach allgemeiner Definition spricht man ab 40.000 Wörtern (also runden 160 Normseiten) von einem Roman. Es ist offensichtlich, dass man für einen Roman von 160 Seiten deutlich weniger Zeit als für ein Mammutwerk von über 1.000 Seiten wie die epischen Fantasy-Romane von George R.R. Martin benötigt. Als guter Durchschnittswert für Romane gelten 90.000 Wörter bzw. 360 Normseiten.
  • Der Aufwand für Recherche und Worldbuilding: Je nach Genre (und Autor!) ist der Aufwand für Recherche und Worldbuilding unterschiedlich hoch. Je mehr man von ‚realistischen‘ Romanen in Richtung Science-Fiction oder gar Fantasy kommt, desto mehr verlagert sich der Löwenanteil des Aufwands von der Recherche hin zum Worldbuilding. Und je spezieller der Handlungsort oder die Epoche eines ‚realistischen‘ Romans ist, desto größer wird der Aufwand für die Recherche. Es ist logischerweise einfacher, einen Krimi zu schreiben, der in der eigenen Heimatstadt und in der heutigen Zeit spielt, als einen realistischen Roman zu schreiben, der im England des 12. Jahrhunderts spielt. Wenn man natürlich als Autor hier schon über ein profundes Fachwissen verfügt, relativiert sich die Sache wieder. Nicht umsonst sagt man gerne: „Schreibe über das, was du kennst“. Für Autoren wie John Grisham, der als Anwalt mit dem Schreiben von Justiz-Thrillern erfolgreich wurde, hat sich diese Devise bewährt.
  • Die Arbeitsweise: Ob man seinen Roman im Vorfeld akribisch plant, dann die Rohfassung schreibt und diese nur noch einmal überarbeiten muss oder ob man ohne Vorplanung direkt mit dem Schreiben beginnt und sich über mehrere Fassungen langsam in Richtung eines veröffentlichungsreifen Romans vortastet, hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Zeitaufwand für das Schreiben eines kompletten Romans.
  • Die Arbeitszeiten: Wer nur kurze Zeitfenster früh morgens, wenn er noch müde ist, oder spät abends, wenn er schon wieder müde ist, ins Schreiben investieren kann, wird unterm Strich für die Fertigstellung eines kompletten Romans deutlich mehr Stunden benötigen als jemand, der jeden Tag mehrere Stunden am Stück fürs Schreiben einplanen kann und auch noch die Zeiten dafür einplanen kann, während derer er am produktivsten ist. Mit der Salamitaktik kommt man natürlich auch ans Ziel (und oft ist sie für Autoren mit einem Vollzeitjob, Familie und Haushalt der einzige Weg, um überhaupt zum Schreiben zu kommen), doch durch die ‚Anlaufzeiten‘, bis man wieder so richtig tief in seinem Projekt drin ist und es so richtig gut läuft, verliert man in der Summe eine Menge Zeit, die man natürlich auf den gesamten Zeitbedarf für das Schreiben eines Romans draufrechnen muss.
  • Die Erfahrung: Ein unerfahrener Autor, der an seinem ersten Roman arbeitet, wird logischerweise für ein solches Projekt länger brauchen als ein routinierter Vollzeit-Autor, der seit Jahrzehnten professionell schreibt und schon Dutzende Bücher veröffentlicht hat. Gerade bei besonders produktiven Bestseller-Autoren ist es oft so, dass sie im Laufe der Zeit eigene Plot-Schablonen entwickelt haben, die zwar ihre Produktivität und ihren Output enorm steigern, aber auch dazu führen, dass manche Leser sich darüber beschweren, dass diese Autoren immer wieder Variationen derselben alten Geschichte schreiben.

Wenn wir uns also nicht nur aus reiner Neugier dafür interessieren, wie lange so ein Autor eigentlich an einem Roman schreibt, sondern auf der Suche nach Informationen sind, die wir auf unsere eigenen Romane und unsere persönliche Zeitplanung anwenden können, brauchen wir detaillierte Informationen, die all diese Faktoren berücksichtigen.

Das Problem ist, dass die meisten Autoren kein Autorenlogbuch führen, in dem sie ihren Zeitaufwand für einzelne Projekte bzw. deren einzelne Phasen im Detail festhalten. Sie können höchstens rückblickend abschätzen, wie viele Wochen oder Monate sie an einer bestimmten Phase ihres Projekts gearbeitet haben und wie viele Stunden sie im Schnitt pro Woche an ihren Schreibprojekten arbeiten.

Sehr interessant sind daher in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer Studie der amerikanischen Fantasy- und Science-Fiction-Autorin Holly Lisle, die zu diesem Thema insgesamt 380 Schriftsteller befragt hatte. Die Ergebnisse der Untersuchung sind nicht mehr unter dem ursprünglichen Link verfügbar, lassen sich über die Wayback-Machine aber weiterhin abrufen.

Im Schnitt arbeiteten die befragten Schriftsteller ca. 11-12 Stunden pro Woche an ihren Romanprojekten. Sie benötigten beim Schreiben ihrer Rohfassung eine gute halbe Stunde (34 Minuten) pro Normseite (= 250 Wörter), was bei einer durchschnittlichen Romanlänge von 90.000 Wörtern (= 360 Normseiten) runden 200 Stunden für das Schreiben der Rohfassung entspricht.

Die befragten 380 Schriftsteller benötigten im Schnitt 3-4 Revisionsdurchläufe, um ihre Rohfassung in einen veröffentlichungsreifen Stand zu versetzen. Bei einem durchschnittlichen Zeitaufwand von 64 Tagen pro Revisionsdurchgang kann man daraus ableiten, dass die Schriftsteller im Schnitt 375 Stunden für die Überarbeitung ihrer Romane benötigt hatten (also eine gute Stunde pro Normseite): 3,58 Revisionen * 64,4 Tage * 11,4 Stunden pro Woche / 7 Tage = 375 Stunden.

Diese Statistik ist die hohe Anzahl befragter Schriftsteller recht aussagekräftig. Man kann also schon einmal pauschal sagen, dass der durchschnittliche Romanautor ca. 30 Minuten für eine Seite Rohfassung und weitere 60 Minuten für die Überarbeitung(en) dieser Rohfassung benötigt.

In dieser Statistik fehlt allerdings ein ganz wichtiges Detail: die Zeit für die Planung und Vorbereitung eines Romans, bevor man mit dem eigentlichen Schreiben der Rohfassung beginnt – also der ganze Zeitaufwand für Ideenfindung, Worldbuilding und Recherche sowie die Planung der Handlung. Das ist ein Aufwand, den man in der Summe auch nicht unterschätzen sollte.

Doch auch wenn es hier aufgrund der sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen der befragten Autoren keine exakten Zahlen gibt, sind die Ergebnisse der Befragung dennoch sehr interessant: Runde 30% der Autoren lassen eine Idee gedanklich reifen und fangen dann ohne einen expliziten Planungsprozess mit dem Schreiben an. Zusammen mit den knapp 6% der Autoren, die sich direkt ans Schreiben stürzen, wenn ihnen eine neue Romanidee kommt, ergibt das einen Anteil von ca. 36% „Pantsern“, also Schriftstellern, die die Handlung erst während des Schreibens der Rohfassung entwickeln.

Die restlichen 64% „Planer“ benötigen, wenn man versucht, aus dem Rohmaterial der Befragung einen ungefähren Durchschnittswert zu ermitteln, im Schnitt ca. 65 Stunden für die Planung eines Romans. Rechnet man nun noch die 36% „Pantser“ ein, die Ideen lediglich gedanklich reifen lassen, bevor sie mit dem Schreiben beginnen, reduziert sich der Durchschnittswert über alle befragten Schriftsteller hinweg auf etwas über 40 Stunden.

Wenn wir aus diesem Zahlengerüst einen hypothetischen Durchschnitts-Schriftsteller basteln sollten, nennen wir sie Anja Autor, dann würde Anja für einen veröffentlichungsreifen Roman von 90.000 Wörtern ca. 600 Stunden benötigen, die sich auf 40 Stunden Planung, 200 Stunden für die Rohfassung und 360 Stunden für die Überarbeitung verteilen.

Da Anja auch bezüglich ihrer Schreibzeit exakt im Durchschnitt liegt und ca. 12 Stunden pro Woche für die Arbeit an ihren Schreibprojekten einplanen kann, benötigt Anja für einen Roman exakt ein Jahr (50 Wochen á 12 Stunden, womit noch zwei Wochen für den Sommerurlaub bleiben).

Als Vollzeit-Autorin mit einer Wochen-Arbeitszeit von 50 Stunden könnte Anja hingegen ein solches Projekt innerhalb von gerade mal 12 Wochen bewältigen und somit alle drei Monate einen neuen Roman veröffentlichen.

Natürlich sind all diese Werte wirklich reine Statistik, kommen aber meines Erachtens in der Summe relativ nah an die Wahrheit heran. Wenn also laut Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“ die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und allem „42“ ist, können wir die Frage, wie lange es dauert, einen Roman zu schreiben, jetzt mit ähnlicher Präzision mit „600 Stunden“ beantworten. ;-)