Wie lange sollten Sie mit der Überarbeitung Ihres Manuskripts warten?

Jeder Autor kennt diese Situation. Irgendwann ist es endlich so weit und man schreibt das magische Wörtchen „ENDE“ unter seine Geschichte. Oder einen anderen, adäquaten Schlußsatz, wenn man keinen Roman, sondern ein Sachbuch o.ä. geschrieben hat.

Und natürlich ist einem klar, dass damit zwar der Schlußstrich unter das eigentliche Manuskript gezogen wurde – aber fertig ist es damit noch lange nicht. Denn schließlich kommt ja noch die Revision bzw. Überarbeitung – und die kann von Aufwand und Umfang her das reine Schreiben der Rohfassung bei weitem in den Schatten stellen.

Doch wann sollte man mit der Überarbeitung seines Manuskripts beginnen? Direkt nach der Fertigstellung? Oder doch lieber erst ein wenig warten? Und wenn ja: wie lange?

Wie meistens im Leben gibt es auch hier keine allgemeingültige Antwort, die in jedem Fall passt. Aber es gibt ein paar Dinge, die man bei seiner Entscheidung beachten sollte.

Zunächst mal sollte man meiner Erfahrung nach niemals direkt nach dem Schreiben mit der Überarbeitung beginnen. Nicht einmal bei einer so einfachen Sache wie einem simplen Blogpost. Bevor man mit der Überarbeitung beginnt, sollte man zunächst ein wenig Abstand zum eigenen Text gewinnen. Und je umfangreicher und komplexer der Text ist und je mehr Zeit man bereits damit verbracht hat, desto größer sollte auch der zeitliche Abstand ausfallen.

Das absolute Minimum für einen kurzen Text wie einen einfachen Blogpost sind ein paar Stunden. So einen Text kann man beispielsweise morgens schreiben, abends überarbeiten und dann zur automatischen Veröffentlichung am nächsten Morgen einstellen. Besser ist jedoch selbst hier, zumindest eine Nacht darüber zu schlafen und den Text erst am nächsten Tag noch einmal mit frischem Kopf durchzulesen und zu überarbeiten.

Das ist auch der Grund, warum ich beim Bloggen (zumindest für „nebenberufliche“ Blogger) nicht mehr als einen Blogpost alle drei Tage empfehlen würde. Am ersten Tag den Blogpost planen, am zweiten schreiben, am dritten überarbeiten und veröffentlichen bzw. für einen späteren Termin vorplanen.

Bei Kurzgeschichten würde ich eher ein paar Wochen Distanz empfehlen, bei Romanen bis zu einem Vierteljahr. Jedenfalls, wenn es keinen dringenden Abgabetermin gibt, der eingehalten werden muss. Wenn natürlich der Einsendeschluss für eine bestimmte Anthologie schon Ende nächster Woche ist oder der Verlag das überarbeitete Manuskript Ihres Romans bis spätestens Ende nächsten Monats erwartet, bleibt selbstverständlich nicht viel Zeit, das Manuskript erst einmal ruhen zu lassen und etwas Abstand zu gewinnen.

Warum Abstand zum eigenen Werk so wichtig ist

Abstand zum eigenen Werk ist wichtig, um dieses zumindest halbwegs objektiv beurteilen zu können. Bei der Revision gilt die alte Regel „Kill your darlings“. Man muss also den inneren Lektor, den man während der Rohfassungs-Phase aufgrund seiner wenig hilfreichen, kritischen Kommentare in eine abgeschiedene Kellergruft verbannt hatte, wieder von der Leine lassen. Und um ihn erbarmungslos den Rotstift ansetzen zu lassen, müssen wir versuchen, unser eigenes Manuskript mit den neutralen, unvoreingenommenen Augen eines Dritten zu sehen – des späteren Lesers.

Natürlich ist uns das in der Praxis niemals hundertprozentig möglich. Wir können nicht ganz aus unserer Haut, aber ein Abstand von ein paar Wochen bis ein paar Monaten ist doch äußerst hilfreich, wenn es darum geht, das eigene Manuskript objektiv zu betrachen.

Objektiv heißt in diesem Fall „so, wie es ist“. Nicht besser, aber auch nicht schlechter.

Wenn man einen Text oder eine bestimmte Passage gerade erst geschrieben hat, tendiert man (je nach Schriftsteller und persönlicher Tagesform) oft zu einem der beiden Extreme: Entweder glaubt man, dass einem der Text ganz hervorragend gelungen ist und eigentlich kaum noch überarbeitet werden muss – oder man flucht innerlich zähneknirschend über diesen hölzern klingenden, miserablen, holprigen Stuss, den man sich da mal wieder aus den Fingern gequetscht hat.

In der Praxis stimmt meist weder das eine noch das andere Extrem. Üblicherweise ist unsere Rohfassung nicht so gut, wie wir im ersten Überschwang gedacht hatten – aber glücklicherweise auch nicht so schlecht, wie wir an anderen Tagen glauben. Die Wahrheit liegt meist irgendwo dazwischen.

Wenn wir später mit einem gewissen emotionalen Abstand an die Revision gehen, stellen wir fest, dass noch jede Menge Handlungsbedarf besteht – aber immer wieder bleiben wir auch an einzelnen Formulierungen oder ganzen Passagen hängen, bei denen wir uns mit einem zufriedenen Lächeln fragen: „Das habe wirklich ich geschrieben? Liest sich klasse!“

Mit zu wenig zeitlichem Abstand besteht die Gefahr, dass man noch zu genau das Idealbild des Romans oder der Geschichte vor seinem geistigen Auge hat. Dieses Idealbild müssen wir aus zwei Gründen während unserer Auszeit zwischen dem Beenden der Rohfassung und dem Beginn der Revision so gründlich wie möglich verdrängen:

Zunächst einmal können wir diesen Idealzustand auf dem Papier niemals erreichen. Unsere Worte und Formulierungen werden nie ausreichen, um das, was wir uns vor unserem geistigen Auge in allen prächtigen Details ausgemalt haben, genau so zu Papier zu bringen. Es ist so, wie die Schriftstellerin Iris Murdoch sagte: „Jedes Buch ist das Wrack einer perfekten Idee.“

Das macht in der Praxis jedoch nichts, denn unsere späteren Leser kennen das idealisierte Bild nicht, das wir beim Schreiben vor unserem geistigen Auge hatten. Sie kennen nur das, was auf dem Papier steht – und wenn ihnen das gefällt, hat der Autor gewonnen. Egal, wie groß die Diskrepanz zwischen dem ursprünglichen Traum und seiner papiergewordenen Gestalt sein mag.

Und damit sind wir auch schon beim zweiten Grund, warum wir Abstand zum eigenen Werk und die Perspektive eines unvoreingenommenen Lesers brauchen. Jeder Schriftsteller sollte sich während der Revision seiner Geschichten diesen Satz in großen, fetten Lettern über seinen Bildschirm kleben: „Es ist in deinem Kopf, aber ist es auch auf dem Papier?“

Sie wissen genau, wie die Charaktere Ihrer Geschichte aussehen. Aber reichen die Details auf den Seiten Ihres Romans auch aus, damit sich Ihre Leser ein zutreffendes Bild von ihnen machen können? Oder ziehen Sie mitten im Buch, wenn der Leser bereits eine ganz bestimmte Vorstellung vom Aussehen der Charaktere hat, nochmal neue Details aus dem Ärmel, die mit Pech überhaupt nicht zur bisherigen Vorstellung des Lesers passten?

Dasselbe gilt für Hintergrundinformationen, Vorgeschichte und Hinweise, die zur Auflösung rätselhafter Ereignisse benötigt werden. Haben alle benötigten Informationen wirklich den Weg aufs Papier gefunden oder müssen Sie hier noch nacharbeiten?

Ach ja: Die Zeit, während derer Sie Ihren Roman oder Ihre Kurzgeschichte in der realen oder virtuellen Schublade liegen lassen, um den notwendigen Abstand für die Überarbeitung zu gewinnen, ist natürlich keine verlorene Zeite. Nutzen Sie diese Auszeit, um währenddessen etwas komplett anderes zu schreiben oder ein ganz anderes, neues Projekt zu beginnen. Je weniger Gemeinsamkeiten es zwischen Ihrem gerade abgeschlossenen Manuskript und Ihrem neuen Projekt gibt, desto schneller, leichter und gründlicher werden Sie sich auch gedanklich von Ihrem alten Manuskript lösen.

Harte Fälle und misslungene Laborexperimente

Manchmal gibt es natürlich auch Manuskripte, bei denen man froh ist, sie endlich fertig zu haben und die man am liebsten nie mehr anfassen würde. Das sind die verkorksten, verkrüppelten Bücher oder Geschichten, die wir nur aus Stolz und Hartnäckigkeit überhaupt zu Ende geschrieben haben – und, um daraus zu lernen.

Auch solche Manuskripte sollte man aufheben, auch wenn man momentan keinerlei Motivation hat, daran weiter zu arbeiten, oder es sich nicht zutraut, diesen strukturlosen Handlungsklumpen nachträglich noch in eine ansprechende Form zu meißeln. Analysieren Sie diese Manuskripte so, wie ein Wissenschaftler seine misslungenen Laborexperimente analysiert. Warum hat diese Handlung nicht funktioniert? Warum hassten Sie am Schluss Ihren eigenen Protagonisten so sehr, dass Sie insgeheim eher seinem Gegenspieler die Daumen gedrückt hatten? Jeder solche Fehler, den wir klar erkennen können und den wir bis zum Punkt seiner Entstehung zurückverfolgen können, ist eine Lektion – ein Fehler, der uns beim nächsten Mal bestimmt nicht nochmal passieren wird.

Legen Sie solche Manuskripte ruhig länger zur Seite. Tragen Sie sich einen Termin für in einem halben Jahr oder in einem Jahr in Ihren Kalender ein (oder nutzen Sie FutureMe, um eine Erinnerungsmail an Ihr zukünftiges Ich zu schicken), sich das Manuskript noch einmal vorzunehmen.

Manchmal hat man bis dahin eine gute Idee, wie man das Manuskript mit viel Arbeit doch noch retten könnte – schließlich arbeitet unser kreatives Unterbewusstsein rund um die Uhr. Und wenn nicht, schicken Sie es nochmal für ein weiteres halbes Jahr in den Winterschlaf.

Betrachten Sie auch diese Manuskripte nicht als endgültig aufgegeben, sondern ähnlich wie jene todkranken Menschen, die sich einfrieren lassen, da ihnen mit dem heutigen Stand der medizinischen Technik noch nicht geholfen werden kann. Genau wie sie darauf hoffen, dass sie irgendwann in der Zukunft jemand auftauen wird, wenn es eine Möglichkeit gibt, ihre heute noch als tödlich geltende Krankheit zu heilen, dürfen auch Ihre Manuskripte darauf hoffen, irgendwann reanimiert zu werden, wenn Sie die Fähigkeiten oder Ideen dazu haben, alle strukturellen und konzeptionellen Fehler von damals gerade zu biegen.

Vielleicht wird dieser Tag niemals kommen – aber man sollte die Hoffnung niemals zu früh aufgeben.


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